50 Jahre danach

Im Jahre 1995 veröffentlichte die DKP Mörfelden-Walldorf eine Broschüre zum Thema: 50 Jahre danach

Berichte zum 50. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg.
Die Broschüre ist mittlerweile vergriffen.

Wie fing das eigentlich an?
Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt. Die Naziführung mobilisierte ihre Anhänger in vielen Städten zu Jubelfeiern und Fackelzügen. In Berlin marschierten Zehntausende SA-Leute stundenlang an der Reichskanzlei vorbei. In vielen Städten und Betrieben protestierten Arbeiter gegen den Terror der braunen Marschkolonnen, gegen jenes Unheil, das unserem Volke drohte. Die KPD rief zum Generalstreik gegen die Errichtung der faschistischen Terrorherrschaft auf.
Nicht unbeträchtliche Teile des deutschen Volkes, das sich in einer großen materiellen Not befand, wurden Opfer der Nazipropaganda, glaubten an den "starken Mann", hegten völlig falsche Erwartungen in die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Die Nazis selbst setzten auf Täuschung, machten neue Texte zu alten Arbeiterliedern und benutzten sogar die roten Fahnen, auf die sie dann ihr Hakenkreuz nähten.
So begann die Errichtung der faschistischen Diktatur. Innerhalb von nur sechs Monaten wurden die letzten Reste bürgerlicher Demokratie beseitigt. Die KPD wurde in die Illegalität getrieben, die SPD verboten, die Gewerkschaften zerschlagen, katholische und liberale Parteien sowie Vereinigungen wurden ihrer Rechte beraubt und aufgelöst. Der Staatsapparat im Reich, in den Ländern und Gemeinden wurde gleichgeschaltet und der faschistischen Politik in vollem Maße dienstbar gemacht.
Die erste Regierung Hitler war eine sogenannte Koalitionsregierung. Ihr gehörten unmittelbar Vertreter der Großindustrie und des Großkapitals an, die den rechtskonservativen Deutschnationalen angehörten oder nahestanden.
Vizekanzler wurde der Großagrarier, Vertrauensmann der Großindustrie und der Hochfinanz, Franz von Papen. Der ehemalige Direktor der Friedrich Krupp AG, Alfred Hugenberg, wurde Wirtschafts- und Ernährungsminister. Finanzminister wurde der erzreaktionäre Adlige, Graf Schwerin von Krosigk. Einige Minister dieser Hitler-Regierung hatten bereits der Papen-Regierung, einer der Wegbereiter der faschistischen Diktatur, angehört.
Dieser Vorgang allein schon zerstörte die Legende, es habe sich bei der NSDAP um eine Arbeiterpartei gehandelt. Kein Arbeiter saß je in dieser noch in einer der späteren Regierungen Hitlers. Vielmehr füllten bereits zu dieser Zeit Arbeiter die Gefängnisse und Konzentrationslager.
Was war vorher? Der Kaiser ging 1918, aber seine Generale blieben - und nicht nur sie. Es blieb der alte Staatsapparat, die Justiz, das Heer der Beamten, die der Monarchie treu gedient hatten. Die bürgerlich-demokratische Revolution von 1918 blieb unvollendet, der Besitz der Großkapitalisten und Großgrundbesitzer unangetastet. Diese Feinde der bürgerlich-demokratischen Weimarer Republik verfolgten mit Hilfe gleichgesinnter Kräfte im Staats- und Militärapparat ihre alten Ziele nach außen: die Korrektur der Resultate des von ihnen betriebenen und verlorenen Ersten Weltkrieges.
In der Innenpolitik ging es ihnen um die Zurückdrängung der Arbeiterbewegung, um so den Weg freizumachen für Sicherung der Profite. Sie erklärten, die parlamentarisch-demokratischen Herrschaftsformen seien zu schwächlich, um die Probleme der kapitalistischen Wirtschaftskrise zu lösen. Dazu sei ein autoritärer Staat und ein entsprechender Führer nötig, eben der "starke Mann".
Der formellen Ernennung Hitlers zum Reichskanzler durch den Reichspräsidenten Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg waren seit Herbst 1932 wiederholt Treffen Hitlers mit einflußreichen Vertretern der Großbanken und der Schwerindustrie vorausgegangen.
Die KPD hatte noch gewarnt: "Wer Hindenburg wählt, wählt Hitler. Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!"
Von einer faschistischen Herrschaftsform - mit einer gefesselten und geknebelten Arbeiterklasse - erwarteten Kapitalvertreter die Sicherung ihres kapitalistischen Eigentums und langfristig gesicherte Profite.
Von einer faschistischen Diktatur erwarteten diese Kräfte die Schaffung solcher inneren Bedingungen, die es dem Imperialismus ermöglichen sollten, die Resultate der Niederlage im Ersten Weltkrieg durch eine Politik der Stärke zu korrigieren. Dies waren die Gründe, die immer neue Gruppen der Großfinanz und des Monopolkapitals wie ihre Organisationen, Vereinigungen und Zeitungen veranlaßten, den Kurs auf die Errichtung einer Nazidiktatur zu unterstützen, nicht zuletzt durch finanzielle Zuwendungen.
Die Nazidiktatur wurde aber nicht nur durch die reaktionärsten Kräfte wie die Kohle-, Eisen- und Stahlmagnaten der Schwerindustrie an der Ruhr, gefördert. Andere Monopolgruppen, wie die der chemischen Industrie, der verarbeitenden Industrie und andere, die sich zunächst noch nicht für die Errichtung der offenen faschistischen Diktatur erklärten, hatten ihre Meinung geändert. Auch bedeutende Teile des kleinen und mittleren Kapitals erhofften sich Rettung durch den Faschismus, waren deshalb für ein Verbot der KPD und der SPD, für die Beseitigung der Gewerkschaften, der Betriebsvertretungen wie des Tarifwesens.
Die Nazipartei, ihre Führung, besonders Hitler verstanden es, mit sozialer, nationalistischer, rassistischer und antikommunistischer Demagogie große Massen im Interesse des deutschen Finanz- und Monopolkapitals hinter sich zu bringen, Klassenbewußtsein auszulöschen, um so eine Massenbasis für die verbrecherischen Pläne des deutschen Imperialismus zu schaffen.
Nicht tausend Jahre, wie sie verkündeten, aber immerhin zwölf lange, finstere Jahre vermochten sie, eine Mehrheit unseres Volkes für ihre verbrecherischen Raub- und Eroberungsziele zu betören und zu gewinnen.
Es ist wenig bekannt, daß Hitler die politische und Staatsmacht gerade zu einem Zeitpunkt übertragen wurde, als seine "nationale Bewegung" eine große Wahlniederlage erlitten hatte. Nachdem bei den Reichstagswahlen im Juli 1932 die Nazis mit 37,3 Prozent der Stimmen einen Höhepunkt erreicht hatten, erhielten sie nach nur drei Monaten, bei Reichstagswahlen im November desselben Jahres, 2 Millionen Stimmen - genau 2.028.771 Stimmen - weniger als am 31. Juli 1932.
Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen in der NSDAP und ihrer Führung, in der ein gewisser Zersetzungsprozeß um sich griff. Dieser Umstand beschleunigte die Beauftragung der Naziführung mit der Regierungsmacht. Besorgt, die Massenbasis der NSDAP könnte weiter absinken, kam es zu einer Reihe von Absprachen verschiedener Finanz- und Monopolgruppen, die die sofortige Übergabe der Macht an Hitler forderten. Die Entscheidung fiel am 4. Januar 1933 in der Beratung zwischen Bankier Schroeder, Hitler, Papen, Hess, Himmler u. a. In der Villa des Baron Schroeder in Köln wurde die Berufung Hitlers zum Reichskanzler beschlossen. Das hat der Bankier später unter Eid ausgesagt.
Der Faschismus als politische Bewegung entstand im Verlaufe der sich verschärfenden allgemeinen Krise des Kapitalismus in Europa. Besonders in den ersten fünf Jahren nach dem Ersten Weltkrieg sahen die herrschenden Klassen - in der Periode des Aufschwungs der internationalen revolutionären Bewegungen - eine Bedrohung ihrer Existenz.
Niemand soll sagen, die Mechanismen, die zu Hitler führten, gäbe es heute nicht mehr.
Auch heute gibt es Millionen Arbeitslose und gewaltige neue Beeinflussungsmöglichkeiten durch starke Kapitalgruppen. Ein Beleg dafür ist Italien, wo für kurze Zeit ein Berlusconi an die Macht kam.
Auch bei uns werden rechtskonservative Ideen in großen Parteien vertreten und immer wieder kommen rechtsradikale Parteien hoch.
Eine der Lehren am 50. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg heißt denn auch: Wachsam bleiben!

Nacht Über Deutschland
Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Wenige Wochen später, am 27. Februar, steckten die Nazis das Reichstagsgebäude in Berlin an. Diese Provokation diente als Vorwand, um mit der Massenverhaftung von Antifaschisten zu beginnen. Am 3. März 1933 wurde Ernst Thälmann, der Führer der KPD, verhaftet - zwei Tage später, Tausende Antifaschisten saßen bereits in den Gestapo-Kellern, waren Reichstagswahlen. Trotz der unerhört schwierigen Bedingungen des Wahlkampfes und der Stimmabgabe konnten die SPD 7,18 Millionen und die KPD 4,85 Millionen Stimmen erlangen. Die beiden Arbeiterparteien erhielten damals also, trotz Terror, trotz der Errichtung der faschistischen Diktatur, zusammen noch fast ein Drittel der Wählerstimmen. Die Nazis erreichten mit 43,9 Prozent der Stimmen nicht die absolute Mehrheit, geschweige denn die Zweidrittelmehrheit, die sie angestrebt hatten und für die Annahme eines Ermächtigungsgesetzes benötigten. Deshalb ließen sie wenige Tage nach der Wahl, am 9. März 1933, die 81 Reichstagsmandate der KPD annullieren. Versprechungen und Betrugsmanöver der Nazis gegenüber den bürgerlichen Parteien der Mitte trugen dazu bei, im Reichstag eine verfassungsändernde Mehrheit zusammenzuschließen, die am 23. März ein Ermächtigungsgesetz beschloß. Die Regierung konnte jetzt ohne Zustimmung des Reichstages Gesetze erlassen auch solche verfassungsändernden Charakters . Wie begann der Nazi-Terror in Mörfelden?
Michael Denk, ein Veteran der Arbeiterbewegung, erinnert sich:
"Mörfelden war die rote Hochburg, und die Faschisten mieden Mörfelden bis zum 23. Februar 1933. Unter dem Schutz der Polizei wurde der erste Einmarsch der Nazis Wirklichkeit. Zu einem Zusammenstoß kam es nicht, jedoch die Internationale' der Zuschauer übertönte das Horst-Wessel-Lied' der marschierenden SA."
Die Kirchenchronik berichtet:
"Am 8. März wehte zum ersten Mal auf unserem Rathaus die Hakenkreuzfahne ... einige Wochen hindurch lag eine Abteilung Hilfspolizei im Ort, das Rathaus wurde bewacht."
Michael Denk schreibt:
"Nach der Wahl am 5. März 1933 wurde es Nacht auch über Mörfelden. Viele Bürger und Genossen wurden bei Nacht- und Nebelaktionen der Nazis verhaftet und fortgeschafft. Die Stationen waren der Runde Turm' in Darmstadt, das Gestapo-Gefängnis in der Riedeselstraße, das KZ Osthofen bei Worms, sowie Dachau, Buchenwald, Butzbach und das Moor. 60 bis 70 Mörfelder Bürger wurden in jenen Märztagen allein ins Konzentrationslager Osthofen gebracht."
Mißhandlungen waren an der Tagesordnung, auf dem Rathaus in Mörfelden und im Darmstädter Gestapo-Keller wurden Gefangene furchtbaren Folterungen unterworfen. Ein Mörfelder KPD-Genosse schickte mit seiner Wäsche die ausgeschlagenen Zähne nach Hause. Die Vernichtungsmaschinerie der Nazis, die später in Auschwitz einen grauenhaften Höhepunkt erreichen sollte, begann.
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!" (1976)

Widerstand
Nach der gewaltsamen Unterdrückung der KPD folgte am 2. Mai 1933 das Verbot der Gewerkschaften und die Beschlagnahme ihres Vermögens. Die SA besetzte die Gewerkschaftshäuser. Im Juni/Juli wird die SPD verboten, die Selbstauflösung der bürgerlichen Parteien erfolgt. Aber, wo viel Druck ist, da gibt es auch ein Aufbäumen. Widerstand gab es auch in Mörfelden.
Michael Denk erinnert sich:
"Nach den ersten Wochen und Monaten der Ungewißheit lebte unsere Partei weiter. Das Organisationsleben ging voran, trotz Verhaftungen. Es wurden Versammlungen abgehalten, im Wald. Auch die Kassierung lief planmäßig. Im Jahre 1935 ging unsere illegale Arbeit hoch. Verschiedene Genossen wurden erneut verhaftet und es kam zu Zuchthausstrafen. In den nun folgenden fahren blieb der Kontakt der zurückgebliebenen Genossen erhalten. Es gab dazu eine gute Gelegenheit; wir trafen uns öffentlich zu einem "Schoppen" in unserem alten Parteilokal im "Weingarten" beim "Geriewene Gretche". Leider konnten wir nicht mehr dankeschön sagen, sie starb in den ersten Tagen nach dem Einmarsch der Amerikaner."
In einer Zeitungsnotiz aus der damaligen Zeit lesen wir, daß man 24 Kommunisten aus der Gegend von Mörfelden verurteilt hat.
"Die Angeklagten hatten versucht, die Kommunistische Partei zu reorganisieren...", hieß es.
Wilhelm Scheuermann, am 30. Oktober 1972 gestorben, erzählte oft davon, wie er Flugblätter gegen die Nazis in der Lenkstange seines Fahrrades nach Rüsselsheim transportierte.
In einem Flugblatt der illegalen KPD des Jahres 1939 kann man lesen:
"Wir deutschen Kommunisten wollen nicht, daß unser Land das verhaßteste in der Welt wird, deshalb sind wir Todfeinde des Hitlerregimes, das Deutschland verhaßt macht. Wir deutschen Kommunisten wollen nicht, daß Millionen deutscher Männer in einem neuen Krieg umkommen, daß unsere schönen Städte in einem Krieg verwüstet werden, daß das Kriegselend durch unser Land und durch andere Länder stampft. Deshalb sind wir die Todfeinde des Hitlerregimes, das unser Land in die Katastrophe des Krieges führt."
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!"(1976)

Das war Osthofen
Das rheinhessische Osthofen wird für viele Verfolgte des Naziregimes zur ersten Station auf dem langen Leidensweg.
In der Presse des Jahres 1933 wird zynisch von de "Erziehungs- und Besserungs-Anstalt Osthofen" gesprochen. Und im Untertitel einer Reportage aus jenen Tagen lesen wir: "Im Konzentrationslager Osthofen werden verwilderte Marxisten zu anständigen Menschen erzogen. Fast alle Mörfelder Kommunisten wurden damals dort eingeliefert. Die damaligen Insassen erzählten: Das Lager war einst eine Papierfabrik (jüdischer Besitz). Einige Schutzhäftlinge wurden unter Aufsicht von SA- und SS-Bewachern nach Osthofen gebracht und mußten in der Fabrik ein Lager für die im Hessenland verhafteten Kommunisten, Sozialdemokraten, Reichsbannerleute, Männer der Eisernen Front und der Antifaschistischen Aktion herrichten. All das ging unter den schlimmsten Bewachungsvorschriften zu, so durfte weder gesprochen noch durch sonst eine Verständigung untereinander verkehrt werden. Der geringste Verstoß wurde mit Strafe durch Schläge oder Essensentzug geahndet. Die Bewacher selbst ließen jegliche menschliche Regungen missen. Sie fühlten sich als die Herrenschicht gegenüber ihren Anvertrauten. Nachdem das Lager notdürftig hergerichtet war, wurden aus den verschiedensten SA- und SS-Kellern die Häftlinge hierher gebracht. Für die Unterbringung dienten Betonbauten. In diese Räume wurde etwas Stroh geworfen und hier mußten die Ankömmlinge teils liegend, teils sitzend sich aufhalten. Dann wurde aus der gegenüberliegenden Mühle das Holz entfernt und Holzgestelle zum Schlafen hergerichtet. Andere Kommandos fuhren nach Worms und mußten das Braune Haus' der NSDAP herrichten, mußten die Kellerböden und Wände vom Blute ihrer Kameraden reinigen. Dasselbe wurde im Polizeipräsidium und in dem städtischen Cornelanium gemacht, wo ebenfalls die SA und SS mit den Gefangenen ihr bestialisches Spiel trieb.
Die Betonbauten waren in den kalten Märztagen weder geheizt noch hatten die Schutzhäftlinge genügend warme Bekleidung, da sie ohne jegliche Ankündigung von zu Hause geholt wurden. Viele hatten einen guten Anzug an, den sie hier im Lager nicht tauschen konnten und mußten in ihrer besten Kleidung die ihnen zugedachte Arbeit verrichten. Eine jener demütigenden Arbeiten war das Latrinenreinigen. Wie da Mensch und Kleidung aussahen, ist unbeschreiblich; oft wurden die armen Menschen von den Bewachern noch in den Kot gestoßen, um dann die Reinigung der Kleider zu befehlen. Die Häftlinge mußten bei stärkster Kälte dann die nassen Kleider wieder anziehen. Bei solchen und ähnlichen Vorkommen, die alltäglich waren, blieb es nicht aus, daß schwere Erkrankungen die Folge waren. Ein SS-Arzt war für die Schutzhäftlinge zuständig. Trat er in Aktion, kam in den meisten Fällen verschärfte Haft, in leichteren verschärfter Arrest heraus.
Verschärfte Haft bedeutete, in das verschärfte Lager zu kommen, das auf der anderen Seite des Stammlagers lag, in der ehemaligen Mühle. Was sich hier bot, war Sadismus in Reinkultur. In erster Linie waren hier die SS-Leute zuständig. Jeder SS-Mann konnte hier seine eigene Brutalität wirksam werden lassen. Dieses Lager wurde später in das Gefängnis innerhalb von Osthofen verlegt.
Die Insassen des verschärften Lagers waren bekannte Funktionäre, die im Kampf gegen den Nazismus standen und in der Zeit der Machtübernahme durch die Nazis sich weiter im Sinne des Antifaschismus betätigten.
Der ehemalige Häftling Christoph Weitz aus Bürstadt schrieb uns dann: Im Monat Mai wurde der frühere SPD-Reichstagsabgeordnete Carlo Mierendorff nachts beim Schlaf von dem SA-Mob überfallen und geschlagen. Dieser Überfall wurde den kommunistischen Inhaftierten unterschoben, dies war aber eine Lüge. Mir persönlich sagte Carlo Mierendorff, daß der Überfall von der SA gemacht wurde."
Der ehemalige Häftling Karl Schreiber aus Bickenbach erinnert sich: Der Speisezettel für diese Häftlinge sah in der Woche folgendermaßen aus: Montag: ein halber Liter Wasserbrühe (sprich Kaffee) und etwa 150 Gramm Kommißbrot Dienstag: ein halber Liter Wassersuppe mit einigen Haferflocken, ohne jede Würzung Mittwoch: Wasserbrühe wie Montag Donnerstag: ein halber Liter Wassersuppe mit Nudeln, die man suchen mußte, ohne Salz usw. Freitag: wie Montag Samstag: ein halber Liter Graupensuppe (Wasserbrühe mit einigen Graupen, ohne Salz) Sonntag: ein halber Liter Wasserkaffee mit 150 Gramm Kommißbrot und mittags eine Kelle Kartoffeln mit etwas Soße.
Seife zum Waschen bekamen die Schutzhäftlinge nicht. Wenn sie entlassen wurden und ins Stammlager kamen, sahen sie schlimmer aus als ein .,Penner", der schon wochenlang keine Waschgelegenheit hatte. All dies nannten die Nazis "Umerziehungslager". Ich selbst, der ich nur im verschärften Lager war, kam mit 132 Pfund ins Lager und verließ es nach sechs Monaten mit 96 Pfund Ich könnte noch viel schreiben, glaube aber, daß dieser Bericht genügt, um zu erfahren, was das Lager Osthofen war. Ein großer Teil der Insassen des Lagers Osthofen fand sich in späteren Zeiten wieder als Angeklagte in Hochverratsprozessen, in denen sie mutig ihren Mann standen; im Kampf gegen Hitler und den deutschen Faschismus. Für viele war Osthofen der Anfang eines langen Weges bis Auschwitz, Treblinka oder Majdanek, nach Buchenwald, Esterwegen, Dachau oder wie die Lager alle hießen, um oft an diesen Stätten endgültig liquidiert zu werden. Doch alle, die das Dritte Reich überlebten, sind heute bereit, der Jugend zu helfen, daß nie mehr Faschismus in der Bundesrepublik an die Macht kommt und Krieg und Vernichtung bringt."
Das war Osthofen, aber das war erst der Anfang des Grauens, das Hitler über das deutsche Volk bringen sollte.
Den gemarterten Antifaschisten Osthofens hat die Schriftstellerin Anna Seghers mit ihrem Roman"Das siebte Kreuz" ein bleibendes Denkmal gesetzt.
Der Schwur der Überlebenden von damals bleibt aktuell: "Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!"
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!" (1976)

Verfolgung
Während der Zeit des Faschismus wurden in Mörfelden 60-70 Personen, zum Teil längere Zeit, in Untersuchungshaft gehalten oder zu langen Freiheitsstrafen verurteilt. Es waren im wesentlichen Mitglieder der KPD.
Von den, Sozialdemokraten war Heinrich Schulmeyer (geb. 1.11. 1914) zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt. Verhaftet war auch der Sozialdemokrat August Gröne, der damals noch in Walldorf lebte. Es gab Terrorurteile, die nicht unbedingt mit der Betätigung in einer der von den Nazis verbotenen Organisationen zusammenhingen. So wurde Heinrich Wilhelm Bäthis (geb . 13.8.1886) "wegen Vergehens gegen das Heimtückegesetz" zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Bäthis war Lebensmittelhändler und soll gerufen haben: "Leit kaaft Hering - heit so fett wie de Göring!"
Nach unvollständigen Angaben wurden allein 25 Mitglieder der Mörfelder KPD-Organisation zu insgesamt über 50 Jahren Zuchthaus und Gefängnis verurteilt.
Darunter waren unter anderen:
Nach einer ersten Übersicht wurden in Walldorf damals folgende Personen in Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern, wegen ihrer aufrechten antifaschistischen Gesinnung eingesperrt:

Ein deutsches Schicksal
Am 7. September 1993 wurde der Walldorfer Peter Passet 80 Jahre alt. Über sein Leben ist noch kein Buch geschrieben worden. Es würde sich lohnen und es würde eine aufrüttelnde Geschichte über einen deutschen Arbeiter, einen aufrechten Kommunisten, der bei Stalin und Hitler Gefängnisse, Zuchthäuser und Konzentrationslager erlebte.
Seine Erzählungen über das arme Leben der Arbeiterfamilien im Walldorf der zwanziger Jahre, über Arbeitslosigkeit und das Elend der "kleinen Leute" machen verständlich, daß viele junge Menschen damals Kommunisten wurden. Die Arbeitslosigkeit, die nicht enden wollte, führte zu vielen Auswanderungen. Deutsche wurde Gastarbeiter. Man schätzt, daß damals mehrere Zehntausend allein in die Sowjetunion fuhren, um Arbeit zu finden und beim Aufbau des Landes zu helfen.
Peter Passet war dabei. Am 26. April 1932 fuhr er nach Moskau, erlebte Höhen und Tiefen. Hier traf er auch seinen Mörfelder Genossen Wilhelm Bitsch, der schon im März 1932 aus politisch Gründen in die Sowjetunion fliehen mußte. Wilhelm Bitsch, Peter Passet und Tausende andere deutsche Kommunisten erlebten die Stalinsche Repressionen am eigenen Leib. Viele wurde umgebracht, Wilhelm Bitsch kam am 28. November 1941 in einem Straflager ums Leben, er wurde erst am 12. Mai 1989 rehabilitiert.
Peter Passet wurde endlosen Verhören unter., gen, als "Konterrevolutionär" verleumdet u nach 16 Monaten Gefängnis am 6. Januar 1939 ins Nazideutschland abgeschoben. Hier wurde er am 24. Januar 1940 aus politischen Gründen erneut verhaftet, wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt - kam allein fünf Monate in Einzelhaft. Nach zwei Jahren wurde er bei der Entlassung am Zuchthaustor von der Gestapo empfangen, kam nach Dachau und landete zum Schluß im Vernichtungslager Mauthausen, wo er am 5. Mai 1945 von den Amerikanern befreit wurde. Peter Passet hatte Glück, von seinem Arbeitskommando, es waren 85 Mann, überlebten fünf.
Peter Passet ist als bescheidener Mensch nie von sich aus mit seinen schlimmen Erlebnissen an Öffentlichkeit gegangen.
Auch er erfuhr erst an seinem 75. Geburtstag einem Vertreter der damaligen sowjetischen Botschaft von seiner vollständigen Rehabilitierung. Er ist bis heute seiner politischen Auffassung treu geblieben. Er mag kantig sein - ein Wendehals ist er nicht. Peter Passet ist bis heute ein engagierter Mensch. Er wirkte aktiv gegen die Startbahn/West, er kämpft als gestandener Antifaschist gegen Rechtsentwicklung und neue Nazis. Peter Passet - ein deutsches Schicksal.

Außenkommando St. Lambrecht
Es wurde sehr oft versucht, die Schandtaten der Nazis zu verharmlosen und die SS als gute deutsche Soldaten hinzustellen. Man glaubt wohl, nach 30 Jahren hätte die Welt vergessen, was alles im Namen Deutschlands geschehen ist. Deshalb möchte ich hiermit aus eigener Erfahrung Erlebtes aus meiner KZ-Zeit berichten. Dies bin ich meinen toten Kameraden schuldig, die zu Millionen ihr Leben hingeben mußten.
Dachau, Juni 1943, Ein Außenkommando wird zusammengestellt. Unter 85 Häftlingen war auch ich. Es ging mit der Bahn über München nach Österreich bis nach St. Lambrecht in der Steiermark. Wir wußten nicht, wo es hingeht und waren erstaunt, als wir in einem Schweinestall, der umgebaut war und in einem Kloster stand, untergebracht wurden. Das Kloster war nicht bewohnt. Wo die Mönche hingekommen sind, erfuhren wir erst später von der Bevölkerung. Drei Tage, bevor das Kommando ankam, wurde im Ort ein Anschlag angebracht mit folgendem Wortlaut: "In den nächsten Tagen kommt ein Häftlingstransport, es sind Mörder und Schwerverbrechen" Der Bevölkerung wurde unter Androhung von schweren Strafen verboten, mit uns zu sprechen. Wer wir waren, hatten die Einwohner bald erfahren, denn kein Mörder oder Schwerverbrecher war unter uns. Wir wurden in der Landwirtschaft und im Siedlungsbau eingesetzt, von der Bevölkerung, zu der wir bald Anschluß hatten, erfuhren wir, daß kurz vor unserem Eintreffen das Kloster geräumt wurde. Alle Mönche kamen in ein KZ. Da wir nicht von der Öffentlichkeit abgeschlossen waren und einige zivile Arbeiter unsere Vorarbeiter waren, war das Leben einigermaßen zu ertragen. Ein Jahr lang ging das gut, bis eines Abends beim Zählappell die Bewachung, bestehend aus 20 SS-Männern, die schwer bewaffnet waren, uns umstellte. Der Kommandoführer - ein Hauptsturmführer der SS - sagte uns, wer nach Hause wolle, solle vortreten; aber kein Häftling trat vor. Er fragte dreimal, aber keiner von uns rührte sich. Der Hauptsturmführer bekam einen Tobsuchtsanfall und schrie "Ihr feiges Mord-Gesindel, ich will euch sagen, wer nach Hause will." Nahm einen Bogen Papier aus seiner Tasche und verlas die Namen von 23 Häftlingen, die mußten vortreten. Sie wurden sofort in Ketten gelegt. Der Hauptsturmführer erklärte uns, diese 23 Häftlinge hätten einen Ausbruchsversuch geplant und wollten die SS-Wachmannschaft entwaffnen und töten, dann wollten sie sich mit der Waffe in der Hand durchschlagen zu den Partisanen in Jugoslawien. Diese Anschuldigung war frei erfunden, denn im Sommer 1943 wäre das ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Die 23 Mann wurden am nächsten Tag in das KZ-Lager Mauthausen gebracht. 19 von ihnen starben sofort einen qualvollen Tod, teils wurden sie von Hunden zerfleischt oder in den elektrisch geladenen Stacheldraht gejagt. Der Rest des Kommandos, 63 Häftlinge, wurde drei Tage später ins Lager nach Mauthausen gebracht. Wir kamen so gegen 22 Uhr dort an. Wir mußten uns aufstellen, ein SS-Führer nach dem anderen kam und sagte uns, daß bis 9 Uhr keiner von uns am Leben wäre. Um 4 Uhr kam der Lagerälteste - auch ein Häftling. Er sagte uns, daß wir mit dem schlimmsten rechnen müßten. In welcher Verfassung wir waren, kann ja jeder selber denken; jeder hatte mit seinem Leben abgeschlossen. So gegen acht Uhr kam der Rapportführer und gab das Kommando "Alles ausziehen!". Wir standen danach noch eine halbe Stunde und wurden dann ins Bad geschickt; die dort beschäftigten Häftlinge erklärten uns, wer ins Bad kommt, bleibt am Leben. Uns so war es. Wir kamen nach dem Bad in das Nebenlager nach Gusen. Dieses Lager glich einer Hölle. In dem Block - es war die Schlafstelle der Häftlinge - erklärte uns der Blockführer (ein SS-Mann), daß wir als Fluchtverdächtige behandelt werden und wir wurden dementsprechend gezeichnet. Ein Fluchtverdächtiger hatte auf dem Rücken und auf der Brust sowie links und rechts auf der Hose einen großen roten Punkt. Ein so gezeichneter Häftling war Freiwild für die SS. Wir wurden in eine Strafkompanie umgewandelt und auf halbe Essensrationen gesetzt; nur wer das mitgemacht hat, kann sich den Hunger Tag und Nacht vorstellen. Am nächsten Tag mußten wir gesondert auf dem Appellplatz antreten. Der Lagerführer erklärte uns, daß wir zur Strafe 14 Tage Strafexerzieren müssen. Was wir verbrochen hatten, haben wir bis heute noch nicht erfahren und können es auch nicht, denn wir waren alle schuldlos. Es ging sofort los. Es waren so zehn Stunden am Tag. Das Kommando hatte ein Oberscharführer. Am ersten Tag hatten wir zwei Tote, am zwölften Tag wurde das Strafexerzieren abgebrochen. Wir hatten bereits zehn Tote. Ich lag auch verletzt im Häftlings-Krankenhaus. Das Kommando kam in den berüchtigten Steinbruch von Gusen. Dort wurde zehn Stunden schwer gearbeitet. Nach meiner angeblichen Heilung mußte ich auch in den Steinbruch. Nach acht Wochen bekamen wir wieder volles Essen; wenn nicht die anderen Häftlinge uns heimlich Essen zugeschoben hätten, wären wir alle vor Hunger gestorben. Über ein Jahr mußten wir als Strafkompanie im Steinbruch arbeiten. In dieser Zeit mußten noch 25 Kameraden ihr Leben lassen. Die Arbeit war fast unerträglich; bei Sprengungen durfte kein Häftling den Arbeitsplatz verlassen. Nach dieser Zeit konnte, wer Glück hatte, in ein anderes Arbeitskommando untertauchen. Am 5. Mai 1945 wurde das Lager von den amerikanischen Truppen befreit, aber am 15. Juli konnten wir erst das Lager verlassen. Von den 85 Häftlingen, die zu dem Außenkommando gehört hatten, haben fünf die Befreiung erlebt; alle anderen wurden erschlagen oder sind verhungert.
Peter Passet, "blickpunkt"-Walldorf (4/1974)

Zeitzeugen
Wenn man in der jüngeren Geschichte forscht, so tauchen viele Namen auf, die man nennen müßte. Unbeugsame Arbeiterfunktionäre, Menschen die durch die Hölle der Konzentrationslager gingen, die sich aber ungebrochen 1945 wieder ans Werk machten. Sie begannen aufzuräumen - mit den Trümmern im Land und mit den Trümmern in den Köpfen der Menschen. Man müßte viele beschreiben. Allerdings, viele Menschen, die Zeugnis ablegen könnten über die Zeit des Faschismus, leben nicht mehr. Einige konnten wir zu Lebzeiten befragen. Stellvertretend seien genannt: Adam Denger, Wilhelm Scheuermann und Karl Hardt.

Adam Denger
Adam Denger starb am 15. 8. 1986. Er erzählte uns: "Die verhafteten Kommunisten hatten auch in den Konzentrationslagern illegale Parteigruppen gebildet. Die Solidarität untereinander, das Zusammengehörigkeitsgefühl rettete vielen das Leben". Daß die Verhafteten auch nach Schlägen und Folterungen aufrecht ihre Gesinnung vertraten, wird oft überliefert. Adam Denger, langjähriger DGB-Ortskartellvorsitzender von Mörfelden, erzählte uns: "Dadurch, daß die Nazis jahrelang nicht nach Mörfelden hineinkommen konnten, hausten sie dann wie die Vandalen. Manchmal mußten sich 20 bis 30 Mann im Rathaus melden. Zuerst waren die Meldungen von 18.00 bis 20.00 Uhr. Willi Groß und ich, wir mußten uns dann um 17.00, 18.00, 19.00, 20.00, 21.00, 22.00, 23.00 und 24.00 Uhr melden. Damals arbeitete ich bei Opel. Offensichtlich hatten die Angst, ich würde fliehen, jedenfalls durfte ich nicht mit dem Fahrrad fahren, sondern mußte laufen. Die Strapazen mit der Melderei waren so schlimm, daß, ich bei Opel einmal zusammenbrach und mit dem Auto heimgefahren werden mußte. Der Betriebsleiter sagte damals zu mir, dann trete halt in einen Verein ein. Ich ging damals in den Gesangverein "Frohsinn", dann hörte die Melderei auf. Der damalige Wachtmeister Fischer hat mich einmal, als ich mich nicht früh genug bei ihm gemeldet hatte, in den Leib getreten. Dann war ich im "Runden Turm" zusammen mit anderen Genossen aus Mörfelden, z.B. mit dem Denke-Michel', inhaftiert. Ich verlangte damals vom Wärter einen Bleistift und ein Stück Papier, weil ich anfragen wollte, weshalb ich überhaupt da sei. Der Wärter meinte, ich solle die Finger davon lassen. Ich bestand aber darauf, und bekam Papier. Nun fragte ich höflich an, warum ich in Schutzhaft sei. Um halb zwei wurde ich von zwei SA-Männern geholt. Der Vernehmende beschimpfte mich, aber ich reagierte nicht.. Wissen sie jetzt, warum sie da sind?'-,Nein ich weiß es nicht, sie haben es ja noch nicht gesagt.' - Ist Wachtmeister Fischer, Bürgermeister Geiß und Ortsgruppenleiter Müller glaubwürdig?' - Das kann ich ihnen nicht sagen.' - Sie haben gestern Nacht Flugblätter in Mörfelden verteilt.' - lautete der Vorwurf. Ich war aber bereits die dritte Nacht im Gefängnis. Dürfte ich fragen, wer das angegeben hat?' - Ich habe ihnen die Namen genannt.' Dann meinte ich nur: ,Nein, dann sind sie nicht glaubwürdig.'. Ich nehme an, daß sie Anwesenheitslisten haben, wer bei ihnen in Kost und Logis ist. Dann holen Sie die Anwesenheitsliste. Ich glaube nicht, verzeihen Sie mir, daß uns Ihre Wärter abends Flugblätter geben, um sie verteilen zu lassen, irgendwo, und uns dann wieder aufnehmen. Der Beamte tobte. Er holte die Anwesenheitsliste und stellte fest, daß ich tatsächlich da war, daß die Beschuldigung nicht stimmen konnte. ,Schafft das Schwein raus! 'Wie wir am Gefängnistor waren, hat mir der eine SA-Mann einen Tritt versetzt und ich war mal wieder frei!'

Karl Hardt
Am 18. September 1972 starb Karl Hardt im Alter von 75 Jahren. Auch für Karl Hardt gelten die Worte des Dichters Nikolai Ostrowski: "Das Wertvollste, das der Mensch besitzt, ist das Leben. Es wird ihm nur ein einziges Mal gegeben, und nutzen soll er es so, daß ihn die zwecklos verlebten Jahre nicht bedrücken, daß ihn die Schande einer kleinlichen und niederträchtigen Vergangenheit nicht brenne und daß er sterbend sagen könne: Mein ganzes Leben, meine ganze Kraft, habe ich dem Herrlichsten in der Welt, dem Kampfe für die Befreiung der Menschen gewidmet."
Das Leben von Karl Hardt war erfüllt. Für ihn gab es kein Schwanken, er wußte stets, wo er hingehörte. Er stand immer auf der Seite der kleinen Leute, auf der Seite der arbeitenden Menschen. Als in Mörfelden 1919 die Kommunistische Partei gegründet wird, war Karl Hardt dabei. Dieser Partei hat er bis zu seinem Tode die Treue gehalten trotz Diffamierung, Verfolgung und ständiger Benachteiligung.
1933, als die Nacht des Faschismus über Deutschland fiel, begann auch für Karl Hardt, seine Frau und seine Söhne, eine schwere Zeit. Schon im Mai 1933 wurde er verhaftet und ins Lager Osthofen eingeliefert. Freigelassen, gab er sich nicht geschlagen, der Kampf ging illegal weiter. Anfang März 1934 wurden er und viele seiner politischen Freunde in Mörfelden erneut festgenommen. Nicht alle Antifaschisten waren in dieser Zeit dem Terror, der Quälerei der Nazis gewachsen.
Karl Hardt war es. Der Rechtsanwalt sagte damals zu seiner Frau:" Ihrem Mann kann ich nicht helfen, er schweigt wie ein Grab." Dieses Schweigen rettete manchen seiner Genossen. Aber ihn traf es besonders hart. Drei Jahre mußte er ins berüchtigte Zuchthaus Butzbach, um dann 1938 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert zu werden, in ein Lager, in dem bis Kriegsende 56.000 Menschen viehisch ermordet wurden.
Darunter der Kommunist Ernst Thälmann, der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid, der Pfarrer Paul Schneider.
Karl Hardt blieb für die Nazis auch nach 1941, als er dem KZ entrinnen konnte, "politisch unzuverlässig" . Aber dieser, von den Faschisten so bezeichnete, war einer der "Zuverlässigsten", als es 1945 galt, den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen.
Karl Hardt war einer der Männer der ersten Stunde. Als Kommunist erwarb er sich Achtung der Mitbürger, deren Interessen er tagtäglich vertrat, deren Sorge er kannte, deren Mühsal des Lebens er täglich teilte. Er wußte, daß die arbeitenden Menschen, daß vor allem die Arbeiter eine große Kraft sind, wo sie sich für ihre Ziele zu einer einheitlichen Aktion zusammenfinden. Daher war für Karl Hardt das Allerwichtigste die Einheit der Arbeiterschaft. So sah er gleich nach dem Zusammenbruch des Hitlerfaschismus seine Hauptaufgabe darin, die Einheit der Arbeiterklasse herzustellen, die Lehre aus seiner Erfahrung vor 1933 ziehend, daß niemals der Faschismus an die Macht gekommen wäre, wenn die Kommunisten und Sozialdemokraten zusammengestanden hätten. So trat er 1945 ein für den Zusammenschluß der SPD und der KPD.
Wie anders wäre die Entwicklung in der Nachkriegszeit verlaufen, wenn diese Spaltung der Arbeiterschaft überwunden worden wäre.
Karl Hardt war ein kluger Kommunalpolitiker. Er war ruhig, aber sein Wort hatte Gewicht. Er war vor 1933 und nach 1945 Vertreter der Kommunistischen Partei Deutschlands im Gemeinderat von Mörfelden.

Wilhelm Scheuermann
Am 30. Oktober 1972 starb Wilhelm Scheuermann im Alter von fast 83 fahren. Bis zu seinem Tode war er ein aktives Mitglied der DKP-Mörfelden. Trotz seines hohen Alters besuchte er Mitgliederversammlungen und gab besonders den jungen Genossen seine reichen Erfahrungen weiter.
Wilhelm Scheuermann wurde am 31.12.1889 als Sohn eines sozialdemokratischen Maurers in Büttelborn geboren. In seinem Geburtsjahr fand der Gründungskongreß der 11. Internationale statt, auf dem der 1. Mai als internationaler Kampftag proklamiert wurde. Wilhelm Scheuermann wurde Maurer wie sein Vater. 1909 wurde er zum Hessisch-Großherzoglichen Artilleriecorps eingezogen. Zwei Jahre später wurde er Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Seine Partei stellt 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag. Aber diese SPD stimmt im August 1914 den Kriegskrediten zu. Damit brach für den jungen Sozialdemokraten Wilhelm Scheuermann eine Welt zusammen. Von 1914 bis 1918 lernte er als Soldat die Schrecken des Krieges kennen. Über die damalige USPD kam er zur KPD, die 1919 gegründet wurde. Beim Machtantritt der Nazis wurde er verhaftet, aber nach einem halben Jahr wieder freigelassen. Im September 1933 wird er erneut in "Schutzhaft" genommen.
Die KPD begann mit dem illegalen Kampf gegen Hitler. Wilhelm Scheuermann transportierte Flugblätter, versteckt in der Lenkstange seines Fahrrades nach Rüsselsheim. Mit vielen seiner Genossen wurde er im Februar 1935 erneut verhaftet. Bis Ende des Jahres 1939 ging er durch die Zuchthäuser des Naziregimes.
Am 12. September 1939 wird er nach vier Jahrer und sechs Monaten Zuchthaus entlassen. Zynisch steht im Verbüßungsausweis: "Es sind ihrer bei der Entlassung 25 RM und 53 Pfennig ausgehändigt worden."
Im Jahre 1945 war er wieder einer der Männer die ihre ganze Kraft der Partei zur Verfüguni stellten und die den Karren aus dem Dreck zogen.
Als die Adenauer-Regierung seine Partei, di( KPD, 1956 verbot, um ungestört die Wiederaufrüstung betreiben zu können, hörte Wilhelm Scheuermann nicht auf, Kommunist zu sein und weiter für die Arbeitersache zu wirken. Bei die Gründung der Deutschen Kommunistischen Partei, der DKP, wurde er eines der ersten Mörfelder Mitglieder. Wilhelm Scheuermann ist ein Leben lang prinzipienfest für die arbeitenden Menschen eingetreten. Dafür haben wir ihm zu danken.
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!'

Es waren unsere Nachbarn
Es gibt in unserer Stadt kaum eine Familie, die nicht einen unersetzlichen Verlust in den beiden grausamen Weltkriegen zu beklagen hätte. Es gibt kaum ein Dorf, in dem nicht eine Tafel mit langen Namensreihen an die gefallenen und vermißten Soldaten erinnert. Viele stumme Opfer aber werden oft vergessen - die Juden. Die Juden, die früher in Mörfelden und Walldorf wohnten, sind ausgelöscht. Sie fehlen in den alten Dorfakten, sie fehlen oft schon im Gedächtnis der Bewohner- Bei uns ist kein KZ-Opfer bekannt". ..Aber es gab doch Juden im Ort!" ja, die wurden abgeholt." Sie wurden "abgeholt", sie fehlen einfach: ehemalige Spielgefährten, Kollegen, Freunde.
Wie war das damals? Bis zum Jahre 1938 hatte das Hitlerregime durch gesetzliche Maßnahmen und durch Terror die Juden aus dem öffentlichen Leben praktisch ausgeschaltet. Die Grundlagen für dieses Vorgehen bildeten die Nürnberger Rassengesetze vom 15. September 1935. Der offizielle Kommentator dieser faschistischen Rassengesetze war übrigens H.M. Globke, unter Adenauer Staatssekretär und dessen engster Vertrauter.
Als ein siebzehnjähriger Jude am 7. November 1938 den Nazidiplomaten Ernst vom Rath in Paris erschoß, um sich wegen der Behandlung seiner Angehörigen in Deutschland zu rächen, nahmen die Nazis dies zum Anlaß für ein furchtbares Pogrom in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938. In dieser "Reichskristallnacht" mißhandelten SS und SA Juden, schleppten sie in Konzentrationslager, steckten Synagogen in Brand und zertrümmerten Tausende jüdischer Geschäfte. Auch in Mörfelden wurde die Scheune eines Juden eingeäschert, auch hier zertrümmerten die Nazis die Fensterscheiben jüdischer Mitbürger.
Wer waren die Mörfelder Juden? Im Buch" Die jüdischen Gemeinden in Hessen" von Paul Arnsberg, erschienen 1971 im Societäts-Verlag lesen wir:
"Die Mitglieder der jüdischen Gemeinde Mörfelden lebten in einfachen Verhältnissen; es waren Kaufleute, Händler, Angestellte und Handwerker. Der letzte Vorsitzende der Gemeinde war Simon Schott; er betrieb Textilhandel und war Mitglied des Mörfelder Gesangvereins. Julius Oppenheimer war Angestellter in einer Annoncenexpedition in Frankfurt und Gründer der Naturfreunde. Moses Sobernheim handelte mit Rohprodukten und Altmetallen.
Bereits im Jahre 1936 war die Inneneinrichtung der Synagoge, sie stand in der Kalbsgasse seit 1829, von Angehörigen der Hitlerjugend demoliert bzw. beschädigt worden. Das Gebäude wurde 1937 an die Konsumgenossenschaft verkauft es wurde trotzdem im November 1938 verwüstet. Im Jahre 1936 sind drei Personen nach dein USA ausgewandert, drei Personen gingen nach Südamerika (1938), je eine Person nach England und Luxemburg, weitere 15 Personen sind in andere Orte, meist nach Frankfurt/Main, verzogen. Am 17. 5. 1939 lebten noch 16 jüdische Personen in Mörfelden. Drei Personen sind noch im Jahre 1940 nach den USA ausgewandert. Zehn Personen wurden nach Polen deportiert. Zwei Personen, die in Walldorf lebten, wurden noch im September 1942 nach Theresienstadt deportiert.
1941 war die Zahl der luden in Mörfelden noch 13 Personen; alle mußten ihre bisherigen Wohnungen räumen und wurden im Hause von Simon Schott (Mittelgasse 9) untergebracht. In einem Schreiben vom 2.2.1942 des Bürgermeisters an die Kreisleitung der NSDAP heißt es: "Die Juden sind gegenwärtig in dem Judenhaus Simon Israel Schott, Mittelgasse 9, untergebracht, welches jedoch hoffentlich auch bald geräumt wird und für andere Familien zur Verfügung steht".
Hinter diesen nüchternen Zeilen aus einem wissenschaftlichen Buch verbergen sich namenloses Elend und die Menschenverachtung des faschistischen Systems.
Jüdische Familien gab es schon im Mittelalter. In Mörfelden wurden jüdische Familien nachweislich schon im Jahre 1611 urkundlich erwähnt. Sie nahmen wie alle am gesellschaftlichen Leben teil, wirkten in den Vereinen, trieben Sport. Im ersten Weltkrieg gab es zwei jüdische Gefallene, Josef Reiss und Adolf Rosenthal.
In der Hintergasse wohnte eine Familie Sobernheim, eine Familie Weishaupt in der Elisabethenstraße. Die Familien Schott und Strauß lebten in der Mittelgasse, die Familien Kohn und Goldschmitt in der Langgasse. Es gab zwei Familien Reiss, sie wohnten in der Zwerggasse und in der Weingartenstraße. In der Brückenstraße lebte die Familie Rosenthal.
Nach 1933 waren unsere jüdischen Mitbürger Schikanen und Repressalien ausgesetzt. Zur Kennzeichnung mußten sie einen gelben Stern tragen, sie erhielten kleinere Rationen auf den Lebensmittelkarten, einige mußten im Straßenbau arbeiten. Zwangsweise mußten die Männer zusätzlich den Namen Israel und die Frauen den Namen Sarah tragen. Nicht alle waren den ständigen Belastungen gewachsen: In der Brückenstraße verübte die Jüdin Rosenthal Selbstmord.
Verschiedene Familien konnten noch rechtzeitig den Verfolgungen entgehen, indem sie auswanderten. Als letzte Mörfelder Jüdin konnte Erna Strauß, mit ihren zwei Kindern am 6. Januar 1941 nach New York entkommen.
Für die Daheimgebliebenen wurde das Leben immer unerträglicher. Am 5. März 1942 erhängte sich Simon Schott, 72 Jahre alt, in seiner Scheune. Am 20. März 1942 wurden unsere jüdischen Mitbürger "abgeholt". Abgeholt, um vergast und verbrannt zu werden.
Augenzeugen schilderten uns: "... sie saßen auf ihren Koffern vor der Bürgermeisterei. Es gab herzzerreißende Szenen ... Die Kinder wurden von den Eltern getrennt." Die Bevölkerung sah zu, Empörung mischte sich mit Angst.
Rudi Hechler Aus "blickpunkt", Mörfelden

1935 wurde die Synagoge demoliert
Von der Mörfelder Synagoge gibt es kein Foto und keine Zeichnung. Hinter dem Rathaus, in der Nähe des Platzes wo sie stand, gibt es heute nur den Gedenkstein, der auf Initiative der DKP errichtet wurde.
Die Juden galten als "Mörfelder". Da war z.B. Max Strauß, er war zwar auswärts aufgewachsen, lebte aber, seit seiner Hochzeit mit Erna Schott 1925 hier und arbeitete seitdem in der Textilienhandlung seiner Schwiegereltern. Wie sein Schwiegervater, Simon Schott, fuhr auch er regelmäßig in die umliegenden Orte und bot von Haus zu Haus die Stoffe für Bettwäsche, Tischtücher, Hemden etc. an.
Auch in den 1920er Jahren wußte jeder im Ort, daß die Familie Schott/Strauß Mitglied der hiesigen, circa 40 Personen zählenden, jüdischen Gemeinde war und Simon Schott gegenwärtig deren Vorsteher. Die Art und Weise, wie die einzelnen jüdischen Mörfelder Bürgerinnen und Bürger hier in das lokale Leben integriert waren, hing damals vor allem von deren konkretem alltäglichen Verhalten ab. Wer, wie viele der erwachsenen Männer Mitglied in einem der hiesigen Vereine war, brauchte dort im allgemeinen nicht mit antisemitischen Äußerungen zu rechnen. Er war geachtet, wenn er im Verein aktiv war. Noch deutlicher zeigte sich dies bei den einzelnen jüdischen Jugendlichen, Sie engagierten sich vor allem in den verschiedenen Sportorganisationen. In dieser Zeit scheinen es nur noch wenige, wohl vorwiegend ältere Leute gewesen zu sein, die den Kontakt mit der jüdischen Bevölkerung aus prinzipiellen Gründen mieden. Im aufgeklärten Klima der hiesigen Arbeiterkulturbewegung spielten solche Haltungen in der lokalen Öffentlichkeit kaum eine Rolle.
Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurden jedoch Verhältnisse geschaffen "die Juden" als Volk - unabhängig vom Verhalten eines Einzelnen - systematisch zu diskriminieren, zu isolieren und schließlich zu ermorden.
1933 war mit dem Verbot der Arbeiterorganisationen und der Verhaftung ihrer Funktionäre gerade auch in Mörfelden die Schärfe der nationalsozialistischen Diktatur erlebt und das gesamte öffentliche Leben radikal verändert worden.
1934 setzte für viele bürgerlich denkende Mitglieder der jüdischen Gemeinde bedrohliche Zeichen für die weitere Durchsetzung des NS-Systems. Ein System aus Angst und Vorsicht führte zur Isolierung der jüdischen Mörfelder.
In den Schulunterricht fast aller Fächer waren nun "rassekundliche" Thesen integriert. Die ersten Schreibübungen waren nicht selten Zitate Adolf Hitlers oder Parolen zeitgenössischer Propagandafeldzüge wie zum Beispiel 1935 / 35: " Die Juden sind unser Unglück".
1935 passierte es, daß einzelne hiesige Hitlerjungen die Synagoge in der Kalbsgasse demolierten. Mit der generellen Entrechtung, die der jüdischen Bevölkerung allmählich jegliche Existenzgrundlage entzog und dem gleichzeitig, auch in Mörfelden sich verschärfenden Klima der alltäglichen Aggression versuchten zunächst die jüngeren, später auch die älteren jüdischen Mörfelder aus Deutschland auszuwandern. Die Dringlichkeit dafür war mit der sogenannten "Reichskristallnacht" (9. 11. 1938) noch einmal erschreckend deutlich geworden. Auch wenn hier in dieser Nacht "nur" die Scheune des Simon Goldschmidt brannte, Max Strauß und Adolf Reiß wurden, wie allerorten, verhaftet und in ein Lager deportiert.
Je mehr Jüdinnen und Juden nun Einreiseanträge in andere Staaten stellten, desto schwieriger wurde es für den einzelnen, die Genehmigung zu bekommen. Manchem fehlte das Geld oder auch die notwendigen persönlichen Beziehungen ins Ausland. Erna Strauß und ihre beiden Kinder, Ruth und Kurt hatten das große Glück, noch im Januar 1941 Deutschland verlassen zu können und über Frankreich, Spanien, Portugal in die USA einzuwandern.

Aus: "Mörfelden gestern" (1986)

Die Geschwister Raiß in Walldorf
Die jüdische Familie Raiß lebte vorwiegend von der Landwirtschaft und einer kleinen Metzgerei. Sie waren die letzten Walldorfer Juden. Wenn ein Hase, eine Ziege oder ein Lämmchen zu schlachten war, dann wurde "de Jurremax" geholt. Nach der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 änderte sich die Situation - nach 1938 wurde sie lebensgefährlich. Zuerst wurde ihnen das Schlachten verboten, später wurde das Pferd aus dem Stall geholt. Somit war die Existenzgrundlage der Familie vernichtet. Aber auch in dieser Zeit gab es Menschen, die den jüdischen Mitbürgern halfen, obwohl das gefährlich werden konnte. Ein Walldorfer Landwirt zum Beispiel zeigte sich besonders hilfsbereit und pflügte so manchen Judenacker" ganz aus Versehen" mit um, so daß die Felder trotz der Wegnahme von Pflugpferden weiter bestellt werden konnten. Ganz ungesehen blieb sein Verhalten natürlich nicht, und er hatte viele Schwierigkeiten mit der Nazi-Partei und dem "Ortsbauernführer". Im Jahre 1943 sollte es gerade dieser Landwirt sein, der den Rest der Familie Raiß, Sarah und Max, zu einem Sammelplatz fahren sollte. Diese Fahrt konnte er nicht so einfach ablehnen, schon wegen der bekanntgewordenen Unterstützung, denn sonst wäre auch er eines Tages "verschwunden" gewesen. Aber er brachte es trotzdem fertig, seinen guten Bekannten nicht aus Walldorf fahren zu müssen. Er sagte seinem Auftraggeber: "Mein Gaul lahmt, ich kann nicht fahren!" Darauf sagte der andere: "Ich hab' dich doch gestern mit dem Gaul gesehen, der läuft doch ganz gut; ich komme nachher mal vorbei und guck mir den Gaul an!" Der Landwirt ging eiligst nach Hause, trat dem Pferd in die Beine und riß ein Hufeisen ab. In diesem Moment kam der Begutachter in den Stall, der Gaul wurde herausgeführt und lahmte. Mit den Worten:" Da stimmt was nicht, aber du brauchst nicht zu fahren!" verschwand der Besucher. Ein anderer, ein Geschäftsmann, gab sich jedoch für die Fahrt her. Mit Trauer in den Augen standen die meisten Bewohner der oberen Langstraße am Tor, als Sarah und Max abtransportiert wurden. Es waren aber immer noch zu wenige, deren Wut auf die Nazis sich in aktiven Widerstand verwandelte.
Aus: "Spuren des Terrors", DKP-Broschüre (1978)

Das kurze Leben der Ilse Mainzer
Am 20. März 1942 wurden aus Mörfelden die letzten 10 jüdischen Bürger (abgedruckte Liste) und ein halbes Jahr später die beiden Walldorfer Sara und Max Reiß, abtransportiert. In dem von der Stadt herausgegebenen Buch "Die schlimmste Sache war die Angst..." steht u.a. hierüber geschrieben: "Obwohl die jüdische Religion Selbstmord zutiefst verurteilt, nahm sich der 72jährige Simon Schott am 5. März 1942 das Leben. Er erhängte sich in der Scheune am Vorabend der Deportation. Kurz darauf kam Polizei und SA in das Haus in der Mittelgasse. Die Deportation begann. Jeder der 10 Jüdinnen und Juden durfte einen kleinen Koffer mitnehmen. Wie Geächtete gingen sie durch die Mittel- und Langgasse zum "Dalles". Begeisterte Antisemiten warfen ihnen haßerfüllte Parolen und auch Steine hinterher. Wer Mitleid hatte, getraute sich kaum auf die Straße. Stundenlang ließ man sie stehen, bis schließlich der Lastwagen kam, der sie von hier, über Groß-Gerau, zur Sammelstelle nach Darmstadt brachte. In vielen Orten der Provinz Starkenburg und Rheinhessen waren in diesen Tagen Jüdinnen und Juden festgenommen worden. Im März 1942 verließ ein Zug mit Viehwaggon die die Menschen gepfercht waren, Darmstadt in Richtung Polen. Mehrere Tage und Nächte dauerte die grauenvolle Fahrt ins Ungewisse. Viele brachen vor Erschöpfung in den Wagen zusammen. Es war kein Platz, um sich hinzusetzen, sie hatten nichts zu essen und nichts zu trinken. Die Klosetteimer schwappten über und es stank nach Fäkalien. Einige überlebten die Fahrt nicht. Am Ziel ihrer langen Reise erwartet sie die SS. Von ihr wurden sie mit Knüppeln aus Waggons getrieben. Die "Selektion" begann. Alle deportierten Jüdinnen und Juden wurden sortiert nach "Arbeitsfähigkeit" und "Nicht-Arbeitsfähigkeit". Alle nichtarbeitsfähigen galten als wertlos und wurden ermordet."
"Sie nahm den Namen Sara an . . ."
Das kurze Leben der Ilse Mainzer hat bisher in keiner Aufzeichnung große Beachtung gefunden. Auf dem Blatt 10 des Geburtsregisters im Mörfelder Standesamt ist lediglich als Geburtstag der 2. Februar 1928 eingetragen - das Sterbedatum fehlt, wie bei allen anderen umgebrachten Mörfelder Juden. Ein Eintrag vom 12.01.1939 lautet: "Die Nebenstehende hat zusätzlich den Namen Sara angenommen". Das hört sich so an, als hätte Ilse diesen Namen freiwillig angenommen. Dies geschah so wenig freiwillig wie das Tragen des gelben Sternes. Unter der Nazi-Diktatur mußten alle weiblichen Juden den Namen Sara und alle männlichen Juden den Namen Israel annehmen und sichtbar den gelben "Judenstern" tragen. Makaber erscheint der letzte Eintrag im Geburtsregister vom 12.6.46, daß der zuzätzliche Vorname Sara wieder weggefallen ist, zu diesem Zeitpunkt war Ilse schon vier Jahre tot.
Was wissen die Mitschüler von Ilse Mainzer? "Sie war ein ruhiges, ja schüchternes Mädchen" hört man. War das ein Wunder bei all den Demütigungen? Ein Schüler erinnert sich: "Es war nachmittags, Singstunde im Dachgeschoß der heutigen Albert-Schweitzer-Schule, etwa im Jahre 1936/37; der Lehrer kam in die Klasse, sah Ilse Mainzer und sagte zu ihr gewandt, so daß alle es hörten: "Hier haben Juden keinen Platz". Der Mitschüler weiß nur noch, daß Ilse Mainzer daraufhin tränenüberströmt den Schulsaal verlassen mußte und fortan eine auswärtige, für jüdische Kinder bestimmte Schule besuchten mußte.
In der Hintergasse von Mörfelden stand das Haus von Henriette Mainzer, der Mutter von Ilse. Das Vorderhaus bewohnte eine Mörfelder Familie mit mehreren Kindern. Diese erinnern sich noch an Maßnahmen der Nazis, um sie, obwohl sie keine Juden waren, einzuschüchtern. Eines Tages wurden ihre Scheiben eingeworfen und die Losung "Judenfreunde" an die Hauswand gemalt.
Für die jüdischen Kinder, die zu diesem Zeitpunkt noch in Mörfelden lebten, war all dies unbegreiflich. Sie erlebten, daß kaum einer noch mit ihnen spielte, sie kaum noch Freundinnen und Freunde hatten. Die Frage, warum dies alles so war, ließ sich für sie nicht beantworten.
Ilses Mutter, Henriette Mainzer, war eine sehr fleißige Frau die immer für ihren und ihrer Tochter Unterhalt sorgte. Ab 1941 mußte sie mit weiteren drei jüdischen Frauen in der Gemeinde Zwangsarbeit leisten. Sie standen in Gräben und Bächen, die sie auszuputzen hatten und wurden gezwungen, mit Steinen beladene Schubkarren im Ort herumzufahren, oder Pflasterarbeiten auszuführen.
Am 20. März 1942, dem Tag der Deportation, brach für Ilse Mainzer und ihre Mutter der letzte Tag in Mörfelden an. Beide wurden schon bald voneinander getrennt und das Ziel ihres Transportes war eines der vielen Vernichtungslager.
H. Hechler, Aus: "blickpunkt"

"Laß' doch die alten Geschichten ruhen"
Solche oder ähnliche Sätze hört man oft, begleitet von einer wegwerfenden Handbewegung, wenn von der Zeit des Faschismus die Rede ist.
Bertolt Brecht schrieb einmal, in der Zeit der Wiederaufrüstung nach dem 2. Weltkrieg: "Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde! Laßt uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!"
Wir wiederholen deshalb an dieser Stelle das tausendmal Gesagte.
In Walldorf bestand vom 27. August 1944 bis zum 31. Oktober 1944 ein Konzentrationslager. Es war ein Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof. Hier in Walldorf wurden 1.700 jüdische Frauen aus Ungarn gefangengehalten, die vom berüchtigten KZ Auschwitz hierher "überstellt" wurden. Die Frauen wurden zur Zwangsarbeit mißbraucht. Sie mußten Wald roden zum Bau der Startbahnen für den Frankfurter Flughafen. Der Nutznießer der Zwangsarbeit war die Firma Züblin & Co., die auch heute noch auf dem Rhein-Main-Flughafen eine große Rolle spielt. Am 31. Oktober 1944 befanden sich noch 1.660 Frauen im Lager.
Die meisten der 40 Fehlenden wurden nach Auschwitz verschleppt und fanden in der Gaskammer ein schreckliches Ende. Einige wurden hier in Walldorf von der SS ermordet.
Die folgenden Zeilen schrieb uns die Tochter der in Walldorf ermordeten Jolan Freifeld. Sie lebt heute in Tel Aviv:
"Ich stamme aus Ungarn, aus Budapest. Im fahre 1944 Ende Juni wurde meine Mutter nach Auschwitz deportiert. Sie war zwischen den Leuten, die Ungarn als die letzten Deportierten verlassen haben. Zuerst war sie einige Zeit in einer Ziegelfabrik in der Umgebung von Budapest, der Platz -wurde Budakalasz genannt. Die Aufseher in diesem Lager waren die Ungarische Gendarmerie und SS-Männer. Von dort sind sie mit Viehwaggons durch Kassau nach Auschwitz verschleppt (worden), wo sie noch die grausamste Selektion von Dr. Mengele überlebte und von dort wurde sie nach einigen Wanderungen nach Walldorf verschleppt. Hier in Walldorf wurde sie durch einen SS-Mann ohne jeden Grund ermordet.
Nach dem Krieg habe ich mir vorgenommen, noch in Budapest auszuforschen, was mit meiner Mutter geschehen ist, bis ich eines Tages eine gewesene Schulkameradin getroffen habe, die mir die obige Geschichte erzählt hat, was später noch durch 3 Frauen, die neben meiner Mutter gewesen sind, bestätigt wurde. Diese Frauen leben noch (vielleicht?) in Ungarn. Ich probiere sie dringend zu suchen."
Eine in Ungarn lebende ehemalige Gefangene des Lagers Walldorf, Zsuzsanna Farkas, erzählte uns:
"Die in der Nähe zur Arbeit gingen, mußten 3-4 km zu Fuß gehen. Wir mußten unabhängig vom Wetter ausziehen, regelmäßig, oft auch am Sonntag, besonders kam das bei Regen und Schnee vor ... Wir entluden aus Waggons Säcke mit 25 kg Zement und Kies. Im Wald mußten wir die angezeichneten Bäume mit Axt und Säge fällen, die Äste absägen und aufschichten. Die langen Stämme mußten wir auch transportieren. Diese Methode wurde angewandt, als die Pferde wegen der schlechten Witterung geschont wurden. Wir gruben Gräber für Wasserleitungen, planierten Wege, legten Schienen.... Gegen die Kälte legten wir Zementsäcke auf unseren Körper und viele bekamen davon Ausschläge und Geschwüre. Den meisten von uns rissen die Schuhe von den Füßen, diese wurden durch Zementsäcke ersetzt, trotz der dafür bekommenen Prügel ... Während der Arbeit war das sogenannte Klavierspiel die Mode, d.h. als wir uns bückten, um eine schwere Last zu heben, lange Balken oder Eisenbahnschienen, wurden die gespannten Rücken mit Stöcken geschlagen."
Der Mörfelder Lehrer Wilhelm Knöß bestätigte diese Vorgänge mit folgender Aussage: "In dieser Zeit konnte mein Onkel eine Fuhre des auf dem Flughafengeländes eingeschlagenen Holzes "organisieren". Mein Großvater holte dann dieses Holz mit einem ausgeliehenen Pferdefuhrwerk von dort ab. Mein Vetter und ich durften ihn begleiten. Während mein Großvater die Holzscheite auf den Wagen lud, wurde von Bewaffneten - ich nehme an SS-Männern - eine Gruppe dieser Frauen durch den Waldweg direkt an uns vorbeigetrieben. Der Anblick war so grauenvoll, daß ich bis heute dieses Bild vor Augen habe, als ob es erst vor kurzer Zeit geschehen wäre. Es war im Spätherbst oder Winter. Wir froren trotz dicker Kleidung."
Da kamen diese Frauen - es waren ganz junge Mädchen und auch viele ältere Frauen darunter - und trugen fast alle dünne, ärmellose Sommerkleider, die zudem noch zerlumpt und zerrissen waren. Gegen die Kälte hatten die Frauen Papier und Holzwolle unter die Kleider gesteckt.
Um die unbekleideten Beine und Füße hatten sie leere papierne Zementsäcke gewickelt und mit Draht festgebunden. Ich erinnere mich auch noch, daß die Frauen während des Marsches immer wieder ein paar Schritte seitlich in den Wald hasteten und schnell das Laub (Schnee?) mit bloßen Händen auseinanderscharrten, um nach etwas Eßbarem (Eicheln, Buchenkerne) zu suchen. Die Bewacher ließen das zu.
Bis heute habe ich mir die Worte eingeprägt, die mein Großvater sagte, nachdem die Bewacher mit ihren Häftlingen wieder weg waren: "Merkt Euch gut, was Ihr eben gesehen habt. So kann man nicht mit Menschen umgehen. Es werden andere Zeiten kommen, wo sich solche Gewalttaten an uns Deutschen rächen werden. Denn es rächt sich alles hier auf der Erde und nicht erst irgendwo im Himmel!"
Später habe ich wiederholt in meinem Bekanntenkreis über dieses Erlebnis berichtet, jedoch ohne damit mehr als ein Achselzucken zu erzeugen."
Christa Tron von der "Startbahn-West-Küchenbrigade" erinnerte sich in einem Interview mit der Zeitung "die tat": "Die Oma is damals auch über Land gegange und hat Kartoffel geholt und da mußte die auch an den Frauen vorbei, wenn die im Wald gearbeitet habe. Ich weiß nur, daß se erzählt hat, daß se mal mit ein Korb voll Äpfel gekomme ist und mußte da an diesen Frauen vorbei, und das war so ein jämmerlicher Anblick, und sie haben sich vor Hunger so auf die Frau gestürzt und ihr die Äpfel vom Fahrrad gerissen, daß sie richtige Angst gekriegt hat, und sie ist fort, nix wie fort ..."
Frau Helena Halperin, die jetzt in Bnei Beraq bei Tel Aviv in Israel lebt, erinnerte sich ebenfalls ar diese Begebenheit. Sie erzählte uns:
"Es kam ein Mädchen mit einem Fahrrad gefahren, hintendrauf hatte sie einen Korb Äpfel. Und die Mädchen (die Häftlinge) haben sie um Äpfel gebeten. Sie ist aber weitergefahren. Da haben sie sie umgestoßen, und die Äpfel sind heruntergefallen, und sie haben alle weggepackt, organisiert'. " Und sie fügte entschuldigend hinzu ..Das ist eine Episode, die eigentlich nicht zum Erinnern ist."
Zum Abschluß möchten wir noch einmal Frau Halperin zu Wort kommen lassen. Sie fragte uns "Warum läßt man in Deutschland die Neonazis zu? Will man in Deutschland noch einmal Faschismus haben? Ich kann das nicht verstehn."
Auch wir können das nicht verstehen. Wir wer den dagegen angehen, mit nicht ruhenden alten Geschichten, mit Gedenksteinen für die Opfer des letzten Krieges, mit tausendmal wiederholten Warnungen, damit es auch nicht ein einziges Mal zuwenig gesagt wurde.
"Es gibt nichts Wichtigeres, als den Frieden!" (1984)

Zeugen berichten
Bnei Beraq ist ein Vorort von Tel Aviv. Es ist ein drückend heißer Sommertag. Herbert Oswald aus Walldorf, ist mit einem Dolmetscher zu Gast bei Helena Halperin. Auf dem Tisch läuft ein Kassettenrecorder. Die Hilfe des Dolmetschers erweist sich schnell als unnötig: Frau Halperin spricht sehr gut Deutsch. Sie erzählt uns ihre Lebensgeschichte. An das Lager Walldorf erinnert sie sich sehr genau. Immer mehr Erinnerungen kommen beim Erzählen. So erhalten wir eine fast lückenlose Schilderung der Ereignisse im Lager Walldorf. Frau Halperin kann sogar eine Skizze des Lagers zeichnen. Sie stimmt mit der überein, die wir aus anderen Quellen haben. Die gesamte Tonbandaufzeichnung ist über eine Stunde lang. Die Passagen, die sich auf das Lager Walldorf beziehen, haben wir hier abgedruckt. Als Frau Halperin ihre Schilderung beendet hat, fragt sie: "Warum läßt man in Deutschland die Neonazis zu? Will man in Deutschland noch einmal Faschismus haben? Ich kann das nicht verstehn."
"Wir waren in Auschwitz von April bis August 1944. In der 2. Augusthälfte hat man uns von Auschwitz weggenommen und nach Frankfurt am Main gebracht. Dort sind wir ausgestiegen und zu Fuß in den Wald bei Walldorf. Wir sind nicht auf der Bahnstation ausgestiegen, sondern unterwegs an einer Rampe. Wir waren in Güterwaggons eingesperrt und dort, an einem Seitenplatz (Nebengleis?) hat man uns ausgeladen. Auf der Rampe war groß aufgeschrieben Frankfurt am Main. Von dort sind wir weit, weit gegangen, wie weit genau weiß ich nicht, nur, daß es sehr schwer zu gehen war. Wir waren so schwach nach 3 Tagen ohne Wasser, ohne Essen, ohne alles. Die SS hat uns begleitet. Wir kamen in einen Wald, dort waren Blocks und in diese Blocks hat man uns gesetzt. Gearbeitet haben wir dort so: Wir haben verschiedene Arbeiten am Flugplatz gehabt. Wir haben aus Waggons große Steine ausgeladen, die waren naß von Schnee und Regen im Oktober. Wenn einer unter den Waggon fiel, mußten wir ihn da herausnehmen. Dann haben wir im Wald Kabel freigelegt. Wir haben die Erde aufgegraben, die Ziegel aufgedeckt, abgehoben und darin war Kabel. Dann haben wir, viele Mädel und Frauen die Kabel genommen und auf einen Platz zusammengetragen. Auf dem Flugplatz sind wir oft beschossen worden, bombardiert worden. Einmal, wir waren 6 Frauen an einem Baum, davon wurde 1 getötet, eine wurde von einer Kugel getroffen, eine erhielt einen Streifschuß, ich hatte einen Schock im Kopf und hörte 3 Tage nichts. Bei Angriffen mußten wir sitzenbleiben, durften uns nicht vom Platz rühren und die SS-Bewacher sind unter die Bäume gelaufen und sie haben geschaut, wo die Bomben fallen, wo die Kugeln fallen und sie haben sich geschützt und wir durften uns nicht vom Platz rühren. Einmal gab es Tote, einmal gab es keine Toten. Die Bekleidung war so: Wir mußten alles hergeben, was wir hatten. Dann kamen wir zur Desinfektion. Danach kam eine Reihe Frauen und jede hat ein Hemd bekommen, ein Kleid glaube ich und eine Hose, egal ob es paßte. Wenn die Kleider nicht reichten, ist man im Hemd geblieben. Dann mußte man früh Zählappell stehen im Freien und eine Frau hatte die Decke umgelegt, da hat sie die Hertha (eine Aufseherin) heruntergerissen. Als die Frau sagte: "Aber ich habe doch kein Kleid, sagte sie "Das ist gar nicht so schlimm!" und hat ihr die Decke heruntergerissen.
Meine Schwester war bei mir. Sie war 17 Jahre alt. Sie war sehr erkältet, sie hat sehr stark gehustet und jede von uns hatte so ein kleines, graues Handtuch und ich sage: "Irena, nimm das Handtuch um den Hals, damit du dich nicht noch mehr erkältest." Wir kommen ins Lager, man zählt uns wieder, wir stehen in 5er-Reihen und die Hertha hat gesehen, daß meine Schwester das Handtuch um den Hals hat, was nicht erlaubt war. Sie rief: " Sturmschar! Schau hier!" Und der Sturmscharführer ist zu meiner Schwester gegangen, hat ihr das Handtuch vom Hals gerissen und ihr zwei Ohrfeigen gegeben. "Du kriegst keinen Mittag!"
Das war schon nachmittags 4-5 Uhr. Wir bekamen einmal am Tag das bissl Essen, das war ein warmes Wasser mit getrockneten Zuckerrüben ohne Salz. Das war es. Manchmal war ein Stückchen Fleisch darin, oder ein Stückchen Kartoffel, wenig, wenig. Meine Schwester stand bei der Küche und sie hat kein Essen gekriegt. Wir haben aber einen Teller Essen mehr genommen und als sie nach dem Essen hereinkam, hat sie es von uns bekommen, aber nicht amtlich. Das Essen war sehr, sehr schlecht. Aber das Brot haben wir noch jeden Tag gekriegt.
Der Sturmscharführer und die SS-Frauen haben gesagt, wer in anderen Umständen ist, soll sich melden, dann gehen sie in ein Erholungsheim. Es waren einige Frauen in anderen Umständen, eine war in meiner Stube. Die hat gesagt: "Ich weiß nicht, soll ich mich melden, soll ich mich nicht melden?" Sie war im 3./4. Monat, man sah es noch nicht. Aber der Sturmscharführer hat gesagt, sie sollen sich melden, sie gehen in ein Erholungsheim. "Sie können doch nicht arbeiten, nicht wahr!" So schön! Und sie haben sich gemeldet und dann hat man sie weggeführt, es waren mehrere, ich weiß nicht wieviele, aber von unserer Stube waren auch 1 oder 2. Man hat alle zusammengenommen, die in anderen Umständen waren und weggeführt zum Bahnhof und dann hat man sie in die Bahn eingeladen. Da war ein junger SS-Mann von vielleicht 17 Jahren, wie es aussieht, war er ein Mensch mit Herz, er kommt mit einer zusammengenommenen Decke und er trägt etwas auf dem Rücken. Wir fragten ihn, warum er so aufgeregt sei, und er erzählte uns, nachdem wir versprochen hatten, nicht darüber zu sprechen: "Die Frauen, die in anderen Umständen sind, sind weg zu der Bahn und wir haben sie eingesperrt und sie haben sich alle ausziehen müssen (das war im Oktober, es war kalt, Schnee und Regen) die Schuhe, die Kleider, was ich hier auf dem Rücken trage und sie sind nackt weg!" Ich habe gehört, daß man sie auf dem Weg erschossen hat.
Im Lager selbst erinnere ich mich nicht an Morde. Es wurde geschlagen, es gab Todesfälle, aber ich kann nicht sagen, daß man jemanden erschossen hat. Unter der Küche war ein Keller. Dort hat man eingesperrt, gestraft und geschlagen. Von Vergewaltigungen weiß ich nichts, aber möglich ist es. Wir haben uns mit Zementsäcken bekleidet.
Auf dem Flugplatz waren Zwangsarbeiter, die haben Straßen gemacht, und wenn sie den Zement ausschütteten, um Beton zu machen, haben sie die Säcke weggeworfen, so daß wir sie nehmen konnten. Wir haben auch mit dem Spaten gearbeitet. Ich war Schneiderin, ich habe für viele genäht. Am Flughafen ging ein schrecklicher Wind im Oktober und wir hatten nur ein Kleid. Wir haben die Säcke unter dem Kleid getragen und Seegras dazwischen gestopft, da war es etwas warm. Der Sturmscharführer war sehr gemein. Er hat sehr viel geschlagen. Ein Mädchen aus unserer Stadt, sie war sehr blaß, konnte nicht zur Arbeit gehen, weil ihr die Füße weh taten. Hat er gesagt: "So etwas gibt es nicht!" Und der Sturmscharführer und auch eine Aufseherin haben angefangen, sie zu schlagen. Sie ist gefallen und konnte nicht mehr aufstehen." Steh' auf! Steh' auf!" Er hat sie bald totgeschlagen. Als er sah, daß sie nicht mehr aufstehen kann und nicht gehen kann, hat er sie in den Block gelassen."

... ohne jeden Grund ermordet
Diese Zeilen schrieb uns die Tochter der in Walldorf ermordeten Jolan Freifeld. Sie lebt heute in Tel Aviv:
"Ich stamme aus Ungarn, aus Budapest. Im Jahre 1944, Ende Juni, wurde meine Mutter nach Auschwitz deportiert. Sie war zwischen den Leuten, die Ungarn als die letzten Deportierten verlassen haben. Zuerst war sie einige Zeit in einer Ziegelfabrik in der Umgebung von Budapest, der Platz wurde Budakalasz genannt. Die Aufseher in diesem Lager waren die Ungarische Gendarmerie und SS-Männer. Von dort sind sie mit Viehwaggons durch Kassau nach Auschwitz verschleppt (worden), wo sie noch die grausamste Selektion von Dr. Mengele überlebte und von dort wurde sie nach einigen Wanderungen nach Walldorf verschleppt. Hier in Walldorf wurde sie durch einen SS-Mann ohne jeden Grund ermordet. Nach dem Krieg habe ich mir vorgenommen, noch in Budapest auszuforschen, was mit meiner Mutter geschehen ist, bis ich eines Tages eine gewesene Schulkameradin getroffen habe, die mir die obige Geschichte erzählt hat, was später noch durch 3 Frauen, die neben meiner Mutter gewesen sind, bestätigt wurde. Diese Frauen leben noch (vielleicht?) in Ungarn. Ich probiere sie dringend zu suchen.
Photographie leider kann ich nicht schicken, da ich selbst keine habe. Unsere Wohnung wurde nach der Deportation meiner Mutter völlig ausgeraubt. Ich habe nur noch die Erinnerungen."

Aus: "Spuren des Terrors", DKP-Broschüre (1978)

Die Fragenden
Der in Walldorf lebende Schriftsteller Peter Härtling schrieb diese "Kalendergeschichte aus meinem Land". Sie erschien in dem Buch "Deutschland, Deutschland", Residenz-Verlag Salzburg und Wien 1979.
In Buchenwald wurden die drei jungen Männer vor eine Landkarte geführt, auf der alle Konzentrationslager mit ihren "Nebenstellen" aufgeführt waren. Verblüfft fanden sie auch den Namen ihrer Heimatgemeinde, W. Davon wußten sie nichts, hatten sie nie etwas gehört. Heimgekehrt, erkundigten sie sich zaghaft auf dem Magistrat, ob es in W. oder in dessen Umgebung während der Hitlerzeit ein Lager gegeben habe. Dies könne nicht sein. Nein. Davon müßte man wissen. Da die drei jungen Kommunisten waren, hielt man sich eher noch mehr zurück.
Sie blieben hartnäckig, fragten weiter, vor allem die älteren Bürger der Stadt. Niemand konnte sich erinnern. Schweigen oder Unwillen waren die Antworten, die sie bekamen. Da sie in ihrer Stadt wohl nichts erfahren würden und das Schweigen sie schmerzte wendeten sie sich an Archive, auch im Ausland. Sie bekamen rascher Auskunft, als sie erwartet hatten.
Sie lasen, daß ein Konzentrationslager in einem der Stadt nahen Waldstück bestanden habe. Daß in diesem Lager 1600 ungarische Jüdinnen gefangen gehalten worden seien. Daß diese Frauen für eine Firma auf dem Flughafen hätten arbeiten müssen. Sie erfuhren auch, daß mindestens sechs Frauen von der Wachmannschaft zu Tode gequält worden seien. Als sie dies alles wußten, vor sich liegen hatten, schwarz auf weiß, als die Vergangenheit ihrer Eltern sichtbar wurde in Dokumenten, von Mörderhänden abgegriffenen Papieren, als die Stadt zu flüstern begann, noch nicht mehr, fingen die jungen Männer im Wald an zu graben. Sie stießen bald auf die Fundamente der gesprengten Baracken, fanden Helme, Werkzeuge. Jeden Abend saßen sie zusammen, schrieben auf, sammelten, zeichneten den Grundriß des Lagers.
Plötzlich begannen einige Bürger doch zu sprechen. Das Schweigen redete: Warum sie an diese alten Geschichten rührten. Das gehe sie nichts an. Sie sollten die Hände davon lassen. Sie beschmutzten mit dieser Wühlerei das Ansehen ihrer Gemeinde. Das Waldstück gehöre gar nicht zu W., sondern zu Z. Aber sie hörten auch, es habe vor einigen Jahren eine alte Frau nach dem Lager gefragt, nach einer Gedenkstätte, an der sie Blumen niederlegen wolle. Sie erhielten, nachdem ihre Suche bekannt geworden war, Briefe aus allen Himmelsrichtungen. Aus Israel meldeten sich Überlebende. Die jungen Männer sparten und fuhren hin, um die Frauen zu befragen. Einer von ihnen berichtete, er habe, weil der Schmerz für ihn so übermächtig geworden sei, das Tonband abstellen müssen. Er ersetzte das Schweigen seiner Väter durch seines.
Sie entdeckten die Gräber der sechs ermordeten Frauen. Nicht auf dem Friedhof in W., sondern auf einem Friedhof in dem dreißig Kilometer entfernten Ort.
Da sie nun das schreckliche Schweigen begriffen hatten, da sie genau und unerbittlich nacherzählen konnten was geschehen war, legten sie Wert darauf, daß ein Stein mit einer Inschrift an die verleugnete Stätte erinnere. Wieder wehrten sich die Stimmen. Dann müßten auch die Opfer des Kommunismus. Wenn überhaupt. Warum überhaupt? Ihre Geduld setzte sich durch. Den Stein wird es geben.
Aus: "Spuren des Terrors, (2. Auflage, 1979)

50 Jahre danach: Zahlen und Fakten die man nicht vergessen darf
Der Zweite Weltkrieg forderte von der Menschheit ungeheure Opfer an Gut und Blut. 50 Millionen Menschen verloren ihr Leben, 35 Millionen wurden Kriegsversehrte. 72 Armeen befanden sich im Kriegszustand, und die Kosten für die Kriegführung betrugen insgesamt 935 Milliarden Dollar. In den faschistischen Vernichtungs- und Konzentrationslagern, in Zuchthäusern und Gefängnissen wurden während des Krieges rund 8 Millionen Menschen verschiedener Nationalität ermordet.
Das deutsche Volk verlor rund 6 Millionen Menschen. Davon fielen über 4 Millionen im Kampf, über 400.000 wurden bei Luftangriffen getötet und mehr als 200.000 Menschen wurden Opfer des faschistischen Terrors. Bei Bombenangriffen wurden in Deutschland 3,6 Millionen Wohnungen zerstört und 7,5 Millionen Einwohner wurden obdachlos. Als Folge des faschistischen Krieges hatten Millionen Menschen ihre Heimat verloren. Die meisten Industriezentren wurden dem Erdboden gleichgemacht. In Deutschland und überall in Europa herrschten Hunger und Not. So waren die Worte Adolf Hitlers vom 15. März 1945, die die ganze Menschenverachtung und Volksfeindlichkeit des Faschismus widerspiegeln, in furchtbarer Weise in Erfüllung gegangen: "Wenn der Krieg verlorengeht, ist es nicht notwendig, auf Grundlagen, die das deutsche Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen."

Kriege, Kriege
Am 1. September 1939 begann Hitler den Zweiten Weltkrieg. Er kostete 50 Millionen Menschen das Leben. 35 Millionen kamen, verkrüppelt aus den Schlachten.
Deutschland verlor in diesem verbrecherischen Krieg über sechs Millionen, Polen sechs Millionen, die Sowjetunion über 20 Millionen Menschen. Deutschland verlor seine Ostgebiete, 17 Millionen Deutsche ihre Heimat. In Walldorf waren im Jahre 1961 2118 Heimatvertriebene registriert, bei einer Gesamtbevölkerung von 9731 also ein Anteil von 21,8%. Auch hinter diesen Zahlen steht großes Leid und Trauer über die verlorene Heimat.
In Mörfelden gab es, bei damals 5.487 Einwohnern 224 Gefallene, über 200 wurden vermißt und kehrten niemals heim. Das bedeutet, daß jeder dritte Mörfelder im wehrpflichtigen Alter im Krieg geblieben ist. In Walldorf gab es ähnliche Verlustlisten.
Hinter diesen nüchternen Zahlen verbergen sich namenloses Leid von Müttern, denen der Sohn fiel, von jungen Frauen, die den Vater ihrer Kinder verloren.
Wenn man sich die letzten 150 Jahre ansieht, muß man feststellen, daß bei jedem Krieg junge Männer aus unserer Gegend gezwungen wurden, den Soldatenrock anzuziehen - viele mußten ihr Leben lassen. Als die große Armee Napoleons mit 600.000 Mann 1812 in Rußland einfiel, da waren unter den 180.000 deutschen Soldaten auch Mörfelder.
Schon damals kehrten 15 junge Männer nicht in das damals nur 1.000 Einwohner zählende Mörfelden zurück. Und die, die man zu Krüppeln geschossen hatte, erzählten vom Todesmarsch einer halben Million Soldaten, die den Angriff Napoleons auf das russische Volk mit ihrem Leben bezahlen mußten.
Auch im Preußisch-Österreichischen Krieg 1871 mußten 58 Mörfelder einrücken. Auch dieser Krieg war ein großes Völkergemetzel; bei der "Schlacht von Sedan" fielen 100.000 Franzosen in deutsche Kriegsgefangenschaft.
Furchtbar waren die Verluste im ersten Weltkrieg 1914 bis 1918.102 junge Männer aus dem damaligen Mörfelden mußten ihr Leben lassen. Heute wissen wir, sie starben nie für den "Kaiser" oder für "Führer, Volk und Vaterland", sondern für den Profit der Kanonenkönige. Kriege entspringen nicht der Laune einer einzelnen Person oder bestimmten Personengruppen, schon gar nicht der "Vorsehung" eines Führers. Kriege haben reale und handfeste Klasseninteressen.
Der Zweite Weltkrieg entsprang, wie der Erste, dem Schoß des Imperialismus, seinem Wesen, der Jagd der Monopole nach Maximalprofit, nach Rohstoffgebieten und Absatzmärkten, nach Sicherung und Erweiterung ihrer Herrschaft.
Hinter den Legenden des deutschen Faschismus, vom Kampf um die "Gleichberechtigung", um fehlenden "Lebensraum", verbarg sich die nackte Raubgier der Monopole.
Im Kreis seiner Vertrauten faßte Hitler einmal diese Ziele gegenüber der Sowjetunion in die Worte: "Grundsätzlich kommt es also darauf an, den riesenhaften Kuchen handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können".
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!" (1976)

Walldorf, 22. Juli 1941
"Die Nächte waren sehr warm und klar und schliefen bei offenem Fenster.
Es war wieder Flugwetter in dieser Nacht vom 21. auf den 22. Juli 1941 und Fliegeralarm war dieser Zeit etwas alltägliches oder etwas allnächtliches. Man ging schon mit der Gewißheit ins Bett, daß noch vor Mitternacht die Sirenen heulen würden.
Meine Brüder und ich hatten unser Schlafzimmer im ersten Stock unseres Hauses in der Jahnstraße. In der Gegend, wo heute der Spielplatz hinter dem Friedhof ist, war damals eine Flak-Batterie stationiert. Der Kommandostand dieser Batterie war für uns die Vorwarnstelle. Da es damals in der Nacht keinen Auto- und Fluglärm gab, hörten wir von dort Klingeln und Kommandorufe und wußten somit, daß es in Kürze Alarm geben würde; was dann auch geschah.
Wenige Sekunden später rief schon unser Vater von unten, wir sollten in den Keller kommen, die Mieterin wecken und deren 3 Kinder mit in den Keller bringen. Wir sprangen aber erst aus den Betten, wenn die erste Salve der Flak abgefeuert wurde. Dann rannten wir in die Wohnung der Mieterin - sie war allein mit 3 kleinen Kindern, ihr Mann war an der Front - rissen die Kinder aus den Betten, nahmen deren Kleider vom Stuhl und sausten in den Keller.
Zwischen den Flak-Salven hörte man das das heimliche, gefährliche Brummen von Flugzeugen. Als wir die Kellertüre kurz öffneten, sah wir, daß es in Richtung Bahnhof brannte. Trotz Protest unseres Vaters rannten meine Brüder und ich los und standen bald darauf vor dem brennenden "Holzhof", bzw. Sägewerk Coutandin.
Wir waren kaum da, ein unheimliches Inferno, hörten wir wieder das nervensägende Brummen eines Flugzeuges. Plötzlich vernahmen wir ein eigenartiges, noch nie gehörtes Geräusch. Instinktiv warfen wir uns in den Chausseegraben, den es damals noch gab. (Auch gab es noch 2 Reihen Allee-Bäume vom Bahnhof bis zur Frankfurter Chaussee).
Es gab eine merkwürdige Detonation. Da wir nicht wußten, was noch kommen könnte, begaben wir uns schnellstens nach Hause. Dort war ziemliche Aufregung. Auch konnten wir feststellen, daß die Kellertür aus den Angeln gerissen war. Bald darauf gab es wieder Entwarnung; wir legten uns schleunigst wieder ins Bett, da wir ja am nächsten Tag zur Arbeit mußten.
Durch die stetigen nächtlichen Alarme hatte man natürlich nie ausgeschlafen und das war für Jugendliche nicht gerade gesundheitsfördernd. Als wir morgens zum Bahnhof kamen, hatte die SA den Bahnhof abgesperrt und niemand wegfahren lassen. Begründung: In der Nacht sei zwischen Bahn- und Ponsstraße eine Luftmine gefallen, es sei großer Schaden entstanden. Alle müßten den Aufräumungsarbeiten helfen.
Ich ging nach Hause, zog mich um und meldete mich bei der Einsatzleitung. Ich mußte dann helfen, zwei Tage Dächer zu decken bei "Bürgermeisters-Konrad" und bei Heibach. Zwischendurch hatte ich mich auch mal zum Explosionsort geschlichen. Der Krater in den Gärten war gar nicht so groß und auch nicht tief. Aber ringsherum waren eine Menge Häuser total zerstört und über 100 Häuser waren zum Teil noch schwer beschädigt. Kommentar in den Nachrichten am 22. Juli 1941: "Nur geringer Sachschaden!"
Georg Pons
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Böse Erinnerungen
Herbst 1944. Jetzt wird es langsam auch dem fanatischsten Anhänger der Nazis bewußt - der verbrecherische Hitlerkrieg ist verloren und neigt sich seinem Ende entgegen.
Die Front in Ost und West rückt der Heimat näher.
Immer mehr hat die Zivilbevölkerung unter den Luftangriffen zu leiden. Selbst am hellen Tag kreisen manchmal Tiefflieger über den Häusern unserer Gemeinde und schießen MG-Garben auf alles, was sich bewegt.
So auch an einem Sonntagvormittag als zwischen einem der übriggebliebenen Jagdflugzeuge der Hitlerluftwaffe und englischen oder amerikanischen Maschinen ein Luftkampf über Mörfelden entbrannte. Fliegeralarm wurde manchmal gar nicht mehr gegeben. Alles schaute zum Himmel. Dort hörte man lautes Gedröhne, aufeinanderzufliegende Maschinen und Abfeuern von Maschinengewehr- und Bordkanonensalven. Plötzlich stürzt brennend eine Maschine ab und noch eine zweite torkelte zu Boden. Fallschirme öffneten sich - die Piloten konnten sich retten.
Große Teile und der Motor der einen Maschine stürzten in die Elisabethenstraße von Mörfelden und die Tragfläche zwischen die Häuser in der Westendstraße. Das zweite Flugzeug zerschellte an Bäumen des nahegelegenen Waldes. Ein unbelehrbarer Hitleranhänger kam mit der Mistgabel bewaffnet und suchte den "feindlichen" Piloten. Als er hörte, im Wald, an einem Baum hätte sich der Fallschirm verfangen, stürzte er dorthin und wollte dem da Baumelnden ans Leben.
Jedoch plötzlich hielt er inne - die Hilferufe vom Baum kamen in deutscher Sprache. Da hing ein blutjunger vom deutschen Faschismus zum Krieg erzogener deutscher Pilot, noch haarscharf am Tode vorbeigekommen - vielleicht Tage später mit dem "Eisernen Kreuz" ausgezeichnet.
Der Flugzeugführer der zweiten abgeschossenen Maschine, ein Engländer - lag halbverkohlt etwa 20 Meter neben dem Forsthaus Wiesenthal. Er konnte nur noch leise "help" und "water" rufen. Kinder und Jugendliche, die sofort mit dem Fahrrad dort ankamen, wollten Hilfe leisten und ihm Wasser zu trinken geben. Aber ein Mörfelder Polizist älteren Jahrgangs, mit großem Schnurrbart, waltete seines Amtes und schrie: "der kriegt kein Wasser, der soll verrecke."
Heinz Hechler
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Bombennächte
Die Kriegsfackel, die der deutsche Faschismus in die Welt getragen hatte, kam zurück. Deutschlands Städte brannten. In jenen Nächten standen die Mörfelder und Walldorfer auf den Ortsstraßen und blickten zum flackernden Himmel über Frankfurt, Hanau, Darmstadt oder Mainz.
Im März des Jahres 1944 war es - Frankfurt wurde vernichtet.
Am 4. Oktober 1943 hatte Frankfurts Bevölkerung einen Vorgeschmack auf das bekommen, was Zerstörung heißt. Es hatte vorher schon kleinere Angriffe gegeben, andere Städte waren schon zu einem großen Teil zerstört. Manche Frankfurter hofften, man würde sie schonen.
Doch im Herbst 1943 sanken fast ganz Oberrad und weite Teile des Ostends in Trümmer. Ein halbes Jahr später geschah die Vernichtung: am 18., 22. und 24. März 1944. Der schwerste Luftangriff war am 22., einem Mittwoch.
In einem Dokumentarfilm über jene Tage hieß es: "Ein Flugplatz in England. Bomben für Frankfurt. 21. März 1944, 16 Uhr. Seit 2 Stunden werden 1.000 Maschinen mit Bomben beladen.
Start in Richtung Themsemündung - Cayeux. Die Engländer wissen, daß die Jagdabwehr der Deutschen schon über dem Kanal beginnen wird. Und sie wissen, daß rund um Frankfurt 4 - 5.000 Flakgeschütze stehen.
Das Rhein-Main-Gebiet ist erreicht. Funkspruch vom Staffelkapitän Hurry, der die Bomber über dem Ziel einweisen soll: Keine Sorge vor der Flak. Ihr Feuer liegt zu tief.
21.40 Uhr. Angriff. In Frankfurt kennt man ein Flugblatt von Luftmarschall Harris, Oberkommandierendem der Alliierten Luftflotte, in dem es heißt:
"Terror war Hitlers Waffe, unsere Antwort an Hitler: Bomben, immer größere Bomben."
In dieser Nacht werden abgeworfen: 42 Luftminen zu 5.000 kg, 122 Sprengbomben zu 1.000 kg, 1.100 Sprengbomben kleinerer Kaliber, 12.000 Flüssigkeitsbomben, 1.200.000 Stabbrandbomben."
In diesen Nächten, in denen das alte Frankfurt untergeht, in denen das Goethe-Haus, das Schopenhauer-Haus und der Römer verbrennen, in denen der Dom als Fackel zum Himmel lodert, sterben 4.822 Menschen.
Zeugen in der Stadt. Altstadtvater Fried Lübbecke wohnte im Schopenhauer-Haus, einem klassizistischem Bau am Mainufer, sah das Inferno in den eigenen Räumen: "Mein Schlafzimmer brennt lichterloh, mein treues Bett in der Alkovennische. Auch in anderen Zimmern frißt sich der Brand schon durch die Decke. Durch die offenen Fenster kommt der Sturm gezogen, der die Flamme heulend sucht. Die Vorhänge wabern wie Flammen ins Freie, die großen Oleanderbüsche auf dem Treppenpodest peitschen geisternd in der übergroßen Helle. Ich stehe noch oben am Flurfenster und schaue gen Norden, Westen und Osten über die Stadt. Alles brennt!" Ernst Beutler, Frankfurter Professor, dem man bald nach dem Krieg den Wiederaufbau des Goethe-Hauses dankte, schildert dies: "Als ich an jenem 22. März 1944 in die Stadt hinein wollte, war auf der langen Bockenheimer Landstraße, an der gespenstisch Haus um Haus brannte, kein Mensch zu sehen, und an der Oper mußte ich umkehren, so heiß schlug mir der Brodem aus der Innenstadt entgegen. Noch Tage darauf lagen vor dem Haus der Lili Schönemann und dem Cafe Groß die eingeschrumpften verkohlten Leichen."
Aus einem Zeitungsbericht vom 23. März 1944: "Einer stürzt die Treppe herab. Er reißt sich die Gasmaske vom Gesicht und ruft: Ruhe und Ordnung halten!' Im Hausflur hängt eine schwere Tür, die durchs Treppenhaus gestürzt ist, Glas knirscht unter den Schuhen. Die Flammen springen gierig jedes Stück Holz an und wandeln es zur Fackel, Balken stürzen, Mauerwerk bricht, umtost von einem Sprühregen von Funken, der mit dem Wind durch die Straßen stiebt. Zur Hauptwache hin jagt der Wind die Brandfetzen, die hastenden Menschen stemmen sich dagegen, eilen zum Eschenheimer Turm, wollen das Freie gewinnen, die Sicherheit eines weiten Platzes..."
Bericht einer Augenzeugin:
"Von der Paulskirche steht nur die Umfassungsmauer. Der Dom ist nun vollständig erledigt, aber auch die Christuskirche im Westend. Es steht nun bald keine mehr. Es gibt die ganzen Tage schon keine Milch mehr. Licht und Gas ist wieder da. Wasser noch keins. Bei uns fährt seit heute die Straßenbahn wieder zum Bahnhof, doch sonst noch nicht."
Dies schrieb eine Frankfurterin am 21. März. In der folgenden Nacht kam auch sie ums Leben.
Im Frankfurter Bauamt gibt es eine Akte aus jener Zeit:
"... für den Fall, daß bei erneuten Fliegerangriffen zahlreiche Todesopfer zu beklagen sind, wird folgendes vorgeschlagen: beträgt die Zahl der Gefallenen mehr als 1.000, werden die Gefallenen in Sargunterteilen zum Friedhof befördert und die Deckel dort aufgelegt; das ist nötig zur besseren Ausnutzung der Fahrzeuge."
Darmstadt trifft das Verhängnis ein halbes Jahr später. In der Nacht zum 12. September war die Stadt massiert angegriffen worden. 12.300 Menschen starben in wenigen Stunden. 70.000 waren obdachlos aus der Innenstadt geflohen, die zu 78% zerstört ist.
Was Generationen geschaffen hatten, war in wenigen Minuten eingeäschert. Darmstadt war ausgelöscht. Wenn jüngere Menschen heute diese Berichte lesen, fehlt ihnen oft die Vorstellungskraft. Vieles, was damals geschah wurde verdrängt und vergessen. Hier wurde es noch einmal aufgeschrieben - als Warnung und Mahnung. Nie wieder Luftschutzsirenen! Nie wieder Bombennächte! Nie wieder Krieg!
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Die Konfirmation
Immer wieder schlich ich mich in das Schlafzimmer meiner Eltern. Dort hing im Kleiderschrank mein weißes Konfirmationskleid. Mama hatte für einen Bezugsschein einen hübschen Stoff gekauft. Die Schneiderin war zu uns ins Haus gekommen und hatte mir ein hübsches Kleid daraus genäht, das ich mir aus einem Modeheft ausgesucht hatte. Ich war richtig aufgeregt. Zwar wäre ich viel lieber mit meinen Schulkameradinnen in unserer Waldenserkirche in Walldorf konfirmiert worden, aber wegen der Haltung der evangelischen Kirche im Ersten Weltkrieg hatte mein Vater die Kirche verlassen und sich der Religionsgemeinschaft von Pfarrer Clemens Taesler angeschlossen. Deshalb war ich bei den Unitariern religiös erzogen worden. Und nun sollte ich also morgen, am 19. März 1944, in Frankfurt konfirmiert werden. Es dauerte lange, bis ich einschlafen konnte. Doch schon bald darauf wurde ich geweckt: Fliegeralarm! Es tat mir körperlich weh, als Mama mich wachrüttelte und ich im Keller müde und voller Angst hörte, wie in der Ferne Bomben fielen. Glutrot war der Himmel über Frankfurt. Die Luft dröhnte vom Lärm vieler Flugzeugmotoren. Meine Eltern wurden immer stiller.
Was würde uns am Morgen erwarten?
Der Zug nach Frankfurt fuhr relativ pünktlich ab. Vor dem Hauptbahnhof hielt er an. Wir mußten aussteigen. Über die Gleise stolpernd, erreichten wir die Stadt.
Unzählige Häuser waren zerstört. Überall brannte es. Erschöpfte Feuerwehrleute versuchten, die Flammen zu bekämpfen. Verletzte und Torte lagen auf den Straßen. Verzweifelte Menschen suchten nach Angehörigen. Mit bloßen Händen versuchten sie, die Trümmer vor den Kellerfenstern wegzuräumen. Rauch von schwelenden Trümmern biß in den Augen.
Würde unser Gemeindezentrum noch stehen? Verspätet, müde, mit Ruß bedeckt, erreichten wir den Kleinen Kornmarkt. Das Gemeindezentrum war unversehrt. Lachend und weinend zugleich begrüßten wir unsere Glaubensfreunde. - Einige von uns fehlten. Bange Frage: Hoffentlich leben sie noch?
Verwirrt stammelte ich das erlernte Glaubensbekenntnis: "In Ehrfurcht vor Gott, dem unerforschlichen ewigen Willen aller Welten, will ich Achtung hegen vor der Menschenwürde in mir und in meinem Nächsten. Ich will danach streben, mich selbst zu erkennen, selbst zu beherrschen ... ich will mich bemühen, mich gegen die Mitmenschen in Wahrhaftigkeit und Zuverlässigkeit, in Gerechtigkeit und Güte zu betätigen...
Wie ich den Tag zu Ende brachte? Ich weiß es nicht mehr!
Freude konnte ich nicht empfinden.
Angst und Verzweiflung beherrschten mich. Ich habe kein einziges Foto von meinem Konfirmationstag. Wer dachte noch ans Fotografieren? Aber die Bilder der Erinnerung an diesen Tag haben sich tief in mir eingegraben.
Vier Tage später ist auch unser Gemeindezentrum den Bomben zum Opfer gefallen.
Am 18. und 22. März 1944 starben über 5.000 Menschen in Frankfurt durch 78 Bomben- und 18 Tieffliegerangriffe, mit Geschwadern von 1.000 Flugzeugen. - Heute wäre nur eine einzige Bombe in der Lage, noch schlimmere Zerstörungen anzurichten.

Käte Raiss
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Das Kornsand-Verbrechen
Wenige Kilometer südlich unserer Stadt findet man am Rhein einen schlichten Gedenkstein mit der Inschrift:
logo 21. März 1945
Im Anblick ihrer Heimat
wurden hier schuldlos erschossen:
Eberhardt Georg, Nierstein
Eller Cerry, Nierstein
Eller Johann, Nierstein
Lerch Nikolaus, Nierstein
Schuch Jakob, Nierstein
Gruber Rudolf, Oppenheim
Den Toten zum Gedächtnis!
Den Lebenden zur Mahnung!
Damit, was hier geschah,
sich nie wiederhole.

Der Groß-Gerauer Landrat Seipp hatte die Gedenkstätte im November des Jahres 1954 in die Obhut des Kreises genommen.
Viele Spaziergänger stehen heute verständnislos vor diesem Gedenkstein, viele junge Menschen können sich nicht vorstellen, welche Verbrechen damals begangen wurden.
Für sie alle haben wir die Geschichte noch einmal aufgeschrieben, als Warnung und Mahnung. Die Geschichte vom Kornsand-Verbrechen.
Nach der Eroberung von Bad Kreuznach setzen die amerikanischen Truppen über die Nahe und gehen in östlicher und südlicher Richtung gegen den Rhein vor. Am 20. März 1945 stehen US-Panzerspitzen vor Ingelheim und Nieder-Olm. Bei Selzen-Hahnheim toben schwere Kämpfe. Von Koblenz bis Speyer lösen sich die Reste der Hitlerarmee auf. Jeder versucht, den Rhein zu erreichen und sich auf der rechten Seite in Sicherheit zu bringen. Während führende Nazis ihre Familienmitglieder über den Rhein schaffen, bleibt der Großteil der Bevölkerung in den Wohnorten. In wenigen Tagen wird der sinnlose Krieg für sie zu Ende sein.
Um diese Zeit waren die Verantwortlichen für das Verbrechen schon am Tatort.
Es waren Alfred Schniering, Leiter der NS-Gauschule, Heinrich Funk, Ordensjunker und NS-Offizier; Georg Ludwig Bittel, Ortsgruppenleiter der NSDAP Auch der Killer war eingetroffen, es war der 18jährige Leutnant Hans Kaiser, mit Erfahrungen bei der Partisanenbekämpfung.
Die Opfer waren Sozialdemokraten und Kommunisten, eine Jüdin war dabei. Alle hatten in der Zeit des Faschismus schwer zu leiden, waren eingekerkert, wurden verfolgt.
Der Sohn von Jakob Schuch wurde wenige Jahre vorher, am 24.9.1942 in Plötzensee, wegen "Landesverrats", wie man antifaschistische Tätigkeit zu nennen pflegte, enthauptet.
Die Festnahme. Am Sonntag, dem 18 März, werden die sechs Antifaschisten festgenommen und unter Bewachung zur Kreisleitung der NSDAP in Groß-Gerau gebracht. Die Nazi-Kreisleitung gibt die Gefangenen noch am gleichen Abend an die Polizeiwache Groß-Gerau ab.
Auf die Frage, warum man sie eigentlich einsperre, wird ihnen erklärt, sie seien als Kommunisten verhaftet worden. Es könnten aber auch persönliche Dinge eine Rolle spielen. In engen Polizeizellen verbringen die Niersteiner zwei lange Nächte. Am 20. März geht es zu Fuß und unter strenger Bewachung weiter zur Gestapo nach Darmstadt. Dort wird ihnen gesagt, man habe sie wegen Aufwiegelei festgenommen. Auch die Nacht zum Mittwoch, dem 21. März, verbringen sie in Ungewißheit hinter Gefängnisgittern.
Freigelassen. Am nächsten Morgen scheint sich ihre Lage jedoch grundlegend gewandelt zu haben. Um 8 Uhr öffnen sich die Zellentüren, Man erklärt den Gefangenen, sie seien frei und könnten zu ihren Familien zurückkehren. Frohen Mutes machen sich die sechs auf den Heimweg. Der Kanonendonner, der ihnen von weitem entgegengrollt, die Kampfflugzeuge am Himmel, all das macht auf sie keinen Eindruck mehr. Sie denken nur noch an zu Hause und freuen sich auf das Ende der 12jährigen Terrorherrschaft, das zum Greifen nahe scheint. Bald ist Schluß mit Hitler! Bald ist der Krieg vorbei!
Als die erschöpften Heimkehrer gegen 11 Uhr an der zur fliegenden Brücke umgewandelten Fähre ankommen, sind auch Funk, Bittel, Schniering und Kaiser da.
Die sechs begeben sich zunächst unbehelligt auf die Fähre und warten auf die Überfahrt.
Als sie hören, die Fähre sei beschlagnahmt, versuchen sie, mit einem Nachen überzusetzen. Sie sind gerade im Begriff, den Nachen abzustoßen, da kommt Funk mit gezogener Pistole gerannt und schreit zum Wasser hinunter: "Halt, der Nachen bleibt hier. Der ist beschlagnahmt!" Funk ist zu dieser Zeit wahrscheinlich der einzige Offizier in der Nähe der Fähre, der die 6 Niersteiner persönlich kennt. Er kennt sie als seine Gegner aus der sog. "Kampfzeit" der NSDAP und weiß auch, daß Frau Eller jüdischer Abstammung ist. Sein Freund Bittel hat ihn außerdem schon einige Zeit zuvor von der baldigen Ankunft der Niersteiner unterrichtet.
Außer Funk und Kaiser hält sich zu dieser Zeit auch Schniering in der Nähe der Anlegestelle auf. Auf den Einwand, die Fahrt sei ihnen erlaubt worden, macht Funk dem Leutnant Kaiser heftige Vorwürfe und verkündet: "Die da unten, das sind doch die größten Lumpen und Verbrecher von Nierstein. Die sind aus KZ abgehauen und wollen jetzt Sabotage treiben." Vorwurfsvoll erklärt er Kaiser, er habe schon vor '33 mit ihnen zu tun gehabt und würde ihnen alles zutrauen.
Die "Verhandlung". In einer anschließenden "Verhandlung" in der Wirtschaft Wehner hat Schniering die Leute kurz befragt und dann verkündet: "Ihr wollt über den Rhein und dort uns Durcheinander machen. Ihr seid doch Kommunisten, ich leg euch alle um." Frau Eller, die ihrem Mann bei ihrer Ankunft schluchzend in die Arme fällt herrscht er an: "Wie können Sie es als Jüdin wagen, einen deutschen Mann zu küssen?" Die Antwort, daß sie Ellers Frau sei, berührt Schniering nicht.
Später stehen die Gefangenen ratlos und in Erwartung des Schlimmsten im Hof. Schniering sitzt derweil in der Gaststube gemütlich beim Essen und spricht auch dem Wein kräftig zu. Auf die Frage eines Volkssturmmannes, was er mit den Gefangenen vorhabe, antwortet Schniering knapp: "Erschießen".
Wer vollstreckt den Mord? Zu feige, das blutige Verbrechen selbst auszuführen, sucht Schniering vergeblich nach willfährigen Handlangern.
Zwei Volksturmleute an der Fähre weigern sich strikt. Daraufhin läßt Schniering die erschöpften Gefangenen zu einer ca. 500 Meter weiter nördlich gelegenen Flak-Stellung treiben. Er selbst wird mit dem Auto vorausgefahren. Inzwischen ist es bereits 14 Uhr.
An der Flakbatterie angekommen, ruft Schniering im Propagandaton, die gleich folgenden Personen hätten sich "kommunistischer Umtriebe" schuldig gemacht und vor kurzem ihren Heimatort verlassen. Jetzt wollten sie trotz Feindannäherung wieder dorthin zurückkehren und Verrat üben. Sie müßten dafür erschossen werden. Als erster Angesprochener lehnt der Flakzugführer Ertel energisch ab. Er läßt daraufhin, mit Billigung seines Batteriechefs Herz, den gesamten Flakzug pro forma antreten. Aber auf die Frage nach Freiwilligen rührt sich keine Hand. Wieder packt die Schniering die blanke Wut.
Er wirft den Unglücklichen die mitgebrachten Spaten vor die Füße und befiehlt ihnen, jetzt ihre "Löcher" zu graben. Zuvor müssen sie unter Bewachung nochmals etwa 100 Meter in östlicher Richtung über das Feld laufen. Bei dieser Gelegenheit oder schon zuvor werden die tapferen Antifaschisten brutal mißhandelt.
Wer den mutigen Reichsbannerführer Jakob Schuch und seine Mitgefangenen kannte, darf kaum annehmen, daß sich die sechs widerstandslos niedermetzeln ließen. Bevor die Mörder zur Tat schreiten, versuchen sie den letzten Widerstandswillen ihrer Opfer zu brechen und schlagen sie viehisch zusammen.
Der Niersteiner Arzt Dr. Zimmermann schreibt am 18. April 1945 nach der Obduktion der Opfer: "In den Fällen Johann Eller, Jakob Schuch und Nikolaus Lerch ist nach dem vorliegenden Befund anzunehmen, daß im Bereich des Gesichtes noch zu Lebzeiten körperliche Mißhandlungen mit stumpfen Gegenständen stattgefunden haben."
Schniering ist in der Zwischenzeit zur Flakstellung zurückgegangen. Als ihm gemeldet wird, die Gefangenen seien jetzt "soweit", sucht er unter den Flaksoldaten nochmals vergeblich nach Freiwilligen. Mehr als 10 Soldaten und Volkssturmmänner haben mittlerweile die Ausführung der ruchlosen Bluttat verweigert. Auch der anwesende Leutnant Wesemann lehnt ab.
Da tritt der ankommende Leutnant Kaiser vor, der schon Tage zuvor der Erschießung eines "fahnenflüchtigen" Soldaten im Oppenheimer Steinbruch beigewohnt hat, und sagt kaltschnäuzig: "Wenn ihr alle zu feige seid, dann mache ich das eben."
Die sechs Todgeweihten müssen sich der Reihe nach vor ihre Gräber stellen. Als letztes Zeichen des Widerstandes ballt Jakob Schuch noch einmal die linke Faust. Später wird Dr. Zimmermann in seinem Obduktionsbefund schreiben:" Die linke Hand ist bei Faustschluß festverkrampft.

Rudi Hechler
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

"Bub, komm bald wieder heim!"
Auch in unserer Stadt ist Anfang des Jahres 1945 kaum noch eine Familie von den Folgen des Krieges verschont, die Liste der Gefallenen wird immer länger. Tagsüber und in der Nacht leidet die Bevölkerung unter den Luftangriffen - die Front rückt immer näher. Schon am 18. Februar 1943 proklamierte Goebbels den totalen Krieg, aber in den letzten Monaten der Nazi-Herrschaft kam dazu noch die totale Mobilisierung. In den Betrieben wurde die Wochenarbeitszeit auf 60 Stunden und mehr festgesetzt, junge Frauen und Schüler wurden zu Flakhelfern, alle männlichen Einwohner zwischen 14 und 65 Jahren zum Volkssturm herangezogen. Mit gnadenlosem Terror gegen kriegsmüde Soldaten und Zivilisten gelang es der NS-Führung, den längst verlorenen Krieg zu verlängern. Standgerichte und Exekutionskommandos wüteten auch im Kreis Groß-Gerau. In der heutigen Albert-Schweitzer-Schule fand die Volkssturmausbildung für die 15- bis 17-jährigen aus dem nördlichen Kreisgebiet statt - das letzte Aufgebot. In einer alten Sandgrube "Am Berg", im heutigen Gewerbegebiet Süd von Mörfelden, wurde an der Panzerfaust geübt. Auf Befehl von "Oben" marschierte, oder fuhr per Fahrrad, am 17. März 1945 der gesamte HJ-Volkssturm des Nordkreises nach Bauschheim, um von dort aus am Brückenkopf von Oppenheim zum Schanzen und Panzersperrenbau eingesetzt zu werden.
Etwa 1000 Jugendliche, auch etliche aus Mörfelden und Walldorf, sind in der kleinen Landgemeinde zusammengezogen. Die Stimmung der meisten ist von Angst geprägt und von Kriegsbegeisterung ist bestimmt nichts zu spüren. Mancher der noch halben Kinder hat die Worte der Mutter oder des Vaters noch im Ohr "Bub, komm bald wieder heim." So ist es nur verständlich, daß immer mehr denken, bei erster Gelegenheit geht es ab in die Büsche.
Eine Mutter aus Groß-Gerau besaß großen Mut und holte ihren Sohn, sowie den Neffen, heimlich aus dem Bauschheimer Lager und versteckte sie auf dem Fuhrwerk unter einer Ladung Stroh. Das waren die wahren Helden in dieser Zeit, nicht die, die damals noch verbrecherische Befehle gaben und viele junge Menschen in den Tod jagten.
Für die Buben aus Mörfelden und Walldorf nahm der Einsatz in Bauschheim am 22. März ein Ende. Der 15 Jahre alte W.Sch. aus Mörfelden wurde von einem gleichaltrigen auf Posten stehenden, der eine Flucht vermutete, am hellichten Tage mit einem Gewehr von hinten erschossen. Die Verantwortlichen reagierten nervös. Beeinflußt von diesem Vorfall und dem entstehenden Chaos, schickte die Führung alle Mörfelder nach Hause. Auch die Walldorfer Buben wurden von einem Wehrmachtsangehörigen mit den Worten "die bring ich zu ihrer Mutter zurück" nach Hause geleitet.
Für die Einwohner von Mörfelden und Walldorf war am 25. und 26. März 1945, mit dem Einmarsch der Amerikaner, der Krieg zu Ende, aber - welch ein Wahnsinn - noch drei Tage vorher verliert ein gerade erst 15 Jahre alt gewordener junger Mensch, der einzige Sohn der Eltern und sicher der jüngste Mörfelder Gefallene, sein Leben.
Heinz Hechler, Aus: "blickpunkt"

Das vergißt man nie
Auf der Suche nach Zeitzeugen, oder Unterlagen aus dieser Zeit im Walldorfer Museum, erzählte Walter Gahn, Jahrgang 1928, seine Erlebnisse aus diesen Tagen. Hier Auszüge aus seinem Bericht: Mitte Februar 1945 wurde ich zu den 87er Grenadieren nach Wiesbaden in die Oranien-Kaserne eingezogen, eine Einheit aus 16jährigen Buben (darunter einige aus Mörfelden und Walldorf) und alten Männern, die ihre Großväter hätten sein können. In diese Wochen fielen zwei Ereignisse, die meine Einstellung zum Militär im Allgemeinen und zu Waffen im Besonderen, bis zum heutigen Tag geprägt haben. Während eines Luftangriffes wurde ein schwerkranker Kamerad, ein 16jähriger Junge aus Nierstein, wegen" Befehlsverweigerung" vor unseren Augen von einem Offizier im Kasernenkeller kaltblütig erschossen, man kann sagen ermordet. Ich werde nie den Jammer der Angehörigen vergessen, die einige Zeit später seine Leiche abholten. Unmittelbar danach, wurden wir, im Karree angetreten, an mehreren, aufeinanderfolgenden Tagen, Zeugen standrechtlicher Erschießungen von sogenannten "Plünderern" und "Deserteuren". Ich vergesse nie den Tag, an dem gleichzeitig drei Hinrichtungen stattfanden. Dabei mußten zwei der Opfer die Tötung des ersten mit ansehen, der letzte mußte beim zweiten dabei sein, dann kam er selbst dran. Ein gnädiges Schicksal hat es mir persönlich erspart, Mitglied des Erschießungskommandos sein zu müssen. Wahrscheinlich waren meine Leistungen auf den Schießständen, wegen meiner Kurzsichtigkeit, zu schlecht. Ich habe mir damals geschworen, nach Kriegsende nie mehr eine Waffe in die Hand zu nehmen.
Aus: "blickpunkt"

Die letzten Tage
Die letzten Tage des Krieges sind auch die schrecklichsten. Die Flamme, mit der die deutschen Faschisten die halbe Welt in Brand steckten, schlägt zurück. Am 13. Februar 1945 werfen 800 amerikanische Flugzeuge 300.000 Bomben auf Dresden. 35.000 Menschen kommen dabei ums Leben. Am 19. März 1945, wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, gibt es noch einen furchtbaren Luftangriff auf Hanau, bei dem Tausende umkommen. Die SS und Feldgendarmerie (die "Kettenhunde") ermorden noch in den letzten Stunden junge Soldaten auf viehische Weise. Auch in unserer näheren Umgebung (am Kornsand) werden "Unzuverlässige" von den Nazis viehisch umgebracht. An der Bergstraße hängt die SS kriegsmüde deutsche Soldaten an den Straßenbäumen auf. Tag und Nacht dröhnen die Bomberstaffeln der Alliierten. Von Mörfelden und Walldorf aus kann man nachts die Brände sehen. Die Wolken färben sich rot, wenn in Frankfurt oder Darmstadt der Phosphor vom Himmel regnet.
Im März 1945 dringen die alliierten Truppen zum Rhein vor. Der Fluß erweist sich nicht als die harte Abwehrstellung, die erwartet worden war. Bei Remagen können die Alliierten ihren ersten Brückenkopf bilden. Im Raum Hessen werden bei Mainz und Oppenheim weitere Übergänge erzwungen.
Das Oberkommando der deutschen Wehrmacht meldet: "Unter Einsatz von Schwimmpanzern konnten die Amerikaner bei Oppenheim den Rhein überschreiten und einen kleinen Brückenkopf bilden ...
Frankfurt wird von drei Seiten umfaßt. Vom Süden stoßen die Amerikaner über Darmstadt an der Autobahn zum Main vor. Vom Osten wird Frankfurt über Hanau angegriffen. Im Norden wird ein Stoßkeil über Wiesbaden vorgetrieben. Aus dem Brückenkopf von Remagen dringen andere Einheiten über Limburg in Richtung Wetzlar und Gießen vor.
In Hadamar, nahe Limburg, wird das berüchtigte "Sanatorium" besetzt, in dem 200.000 angeblich unheilbar Kranke vergast worden waren. Eine amerikanische Sonderkommission verhaftet das Personal. Erste Verhöre am Tatort. ..Murder Mill", Mordmühle, nannten die Amerikaner dieses Haus, in dem Himmlers Euthanasieprogramm abrollte.
Am 28.3. meldet der Wehrmachtsbericht: " Feindliche Angriffe und eigene Gegenstöße wechseln im Raum Hanau ..."
Frankfurt steht nun unmittelbar vor der Besetzung. An diesen Tagen verkündet die Rhein-Mainische- Zeitung: "Niemals wird die Stunde kommen, in der wir kapitulieren werden." Die Amerikaner stehen aber bereits in den östlichen Vororten von Frankfurt.
Zur gleichen Zeit rücken andere Verbände an der Autobahn entlang vom Süden auf Frankfurt vor. Sie werden durch Einheiten verstärkt, die auf dem schon besetzten Rhein-Main-Flughafen gelandet werden.
Auf Befehl des Nazi-Marschalls Kesselring waren die Mainbrücken gesprengt worden, doch ein Flußübergang, die Wilhelmsbrücke, ist nur halb zerstört. Schon am Nachmittag des 26. erkämpfen von Süden kommende amerikanische Einheiten den Übergang und besetzten beide Mainufer. Während es im Generalkommando an der Taunusanlage zwischen dem Stadtkommandanten General Stemmermann und SS-Offizieren zu heftigen Auseinandersetzungen über die Fortsetzungen des Widerstandes kommt, schlagen in der Stadt die Artilleriegranaten ein. Die SS löst Stemmermann ab. Er hatte Befehl gegeben, das Feuer einzustellen und einen befohlenen Gegenangriff, dessen Aussichtslosigkeit er erkannte, nicht ausgeführt. Nachfolger Stemmermanns wird der SS-Standartenführer Löffler.
Noch vor zwei Tagen hatte Nazi-Gauleiter Sprenger seine Parolen ausgegeben: "Fremdherrschaft ist Tyrannei! Amerikanisch-englische Besatzung heißt Hunger, Not und Chaos. Durch Kampf zum Sieg!" Nun hat Sprenger Selbstmord verübt. Am 29. März sind die Soldaten der 3. US-Armee im Besitz einer Stadt, die fast nur aus Trümmern besteht.
Aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Die "Dickworz"-Wand
Wie wird das Ende dieses furchtbaren Krieges einmal aussehen - fragten sich viele Menschen und sehnten diesen Tag herbei. Millionen erlebten ihn nicht mehr. Millionen kamen nach jahrelanger Not und Entbehrungen in die Kriegsgefangenschaft . Auch die Zivilbevölkerung wurde auf das Schlimmste vom Krieg heimgesucht und mußte Tag und Nacht Bombenangriffe über sich ergehen lassen. Die Mütter hatten kaum noch das Nötigste für ihre Kinder zum Essen - jeder wollte endlich Frieden, keine Ängste mehr ausstehen. Man wollte nachts wieder durchschlafen und einigermaßen satt essen. Vor allem aber wartete man auf die Rückkehr der in alle Welt verstreuten Söhne, Väter und Brüder.
Trotz der sich anbahnenden totalen Vernichtung droschen die Nazis immer noch Phrasen von einer Wunderwaffe und schickten Kinder und Greise an die Front. Aus dem Kreis Groß-Gerau fuhren im Oktober 1944 Sonderzüge mit Buben und Mädchen im Alter von 14 bis 16 Jahren an den Westwall. Sie sollten dort mit dem Ausheben von Schützen- und Panzergräben die Front aufhalten. Aber man hat das Leben und die Gesundheit dieser Kinder und Jugendlichen mit miserabelsten Quartieren, mit primitivsten Einrichtungen und während der ständigen Luftangriffe aufs Spiel gesetzt. Auch ich gehörte, damals 16jährig, zu denen und freute mich, als wegen des Näherrückens der Front die Heimfahrt angetreten wurde. Jedoch an ein Weiterlernen und Abschließen einer Lehre war nicht zu denken. Kaum zu Hause angekommen, wurden wir in sogenannte Wehrertüchtigungslager und anschließend zum Arbeitsdienst eingezogen. Im Februar 1945 kam dann erneut ein Stellungsbefehl. Eine Gruppe junger Mörfelder, alle um die 15 und 16 Jahre alt, trafen sich morgens mit ihren Holzkoffern und Pappkartons am Bahnhof. Schon in Frankfurt brachten Fliegerangriffe längere Unterbrechungen. Dasselbe fand nochmals in Idstein im Taunus statt, wo durch Jagdflieger die Lokomotive außer Gefecht gesetzt wurde. Abends erst sollte es vom dortigen Bahnhof aus weitergehen in Richtung Paderborn. Keiner war mehr kriegsbegeistert und alle hatten große Angst vor dem, was noch auf uns zukommen würde.
Auf dem Bahnhof liefen zwei Züge ein, einer in Richtung Front und der andere in Richtung Heimat, nach Frankfurt. Ein kurzes Zögern - und die Mörfelder stiegen in den heimwärts fahrenden Zug. In Frankfurt angekommen wieder Alarm, stundenlanger Aufenthalt im Bahnhofsbunker, Suchen der Bahnhofskommandantur, damit der Einberufungsbefehl seinen notwendigen Stempel bekam (wegen Fliegeralarm Weiterfahrt verhindert). Am nächsten Tag wieder zu Hause. Freude bei den Müttern, aber auch Angst vor Repressalien der Nazis. Immerhin wieder ein Tag Verzögerung, wieder ein Tag dem Kriegsende näher, dachten wir. Am nächsten, oder übernächsten Tag, über Umwege nach Darmstadt und dort erneut Meldung bei einem Standortoffizier mit der Angabe, daß wir das Ziel wegen ständiger Luftangriffe nicht erreichen konnten. Erneuter Marschbefehl mit neuem Ziel, aber die Mörfelder Jugendlichen fuhren wiederum nach Hause, um Zeit zu gewinnen. Unterwegs Luftangriffe, Deckung in zerbombten Gebäuden und alten Kellern in Darmstadt und zu Fuß nach Hause.
Ich höre heute noch die Mutter rufen: "Ei, Bub, Du kommst ja schon wieder." Angst und Freude mischten sich in diesen Äußerungen.
Erst einmal wieder zu Hause schlafen - das war unser einziger Gedanke. Am nächsten Tag neue Meldungen von der näherrückenden Front, es kann nun nicht mehr lange dauern.
So wird im Familienrat beschlossen, "der Heinz bleibt jetzt da!" Nur bleibt die Frage, wie man ihn schützt vor den Häschern der Nazis. Täglich gibt es Truppenbewegungen auch in unserer Gemeinde und die Militärpolizei fuhr nun öfter durch die Straßen um kriegsmüde Zivilisten aufzustöbern. Sie ermordeten in den letzten Minuten junge Menschen auf viehische Weise. An der Bergstraße hängte die SS Jugendliche an den Straßenbäumen auf und ganz in unserer Nähe am Kornsand wurden 6 Menschen erschossen.
In diesen Stunden wurde der Entschluß gefaßt: da hilft nur ein gutes Versteck im Keller. Hinter einer Wand von Rüben "Dickworz") wurde ein Lager hergerichtet. Hier mußte ich nun einige Zeit ausharren. Durch ein paar herausgezogene Rüben reichte man das Essen und für etwas Wärme sorgte eine Bettflasche. Was die Mütter in diesen Tagen durchmachten, kann man erst nach Jahren verstehen. Angst um den Mann, von dem es schon lange keine Nachricht gab, Angst um die Kinder bei ständigen Luftangriffen, Angst um das eigene Leben. Draußen auf der Straße suchten die SS und die Feldgendarmerie nach flüchtenden und versteckten Soldaten.
Endlich rückte die letzte Stunde des Krieges auch für Mörfelden näher. Kinder, Jugendliche und Rentner werden noch kurz vorher zum Volkssturm eingezogen. Die zurückflutende Wehrmacht sprengte alle Brücken an der Autobahn. Viele versteckten sich die letzten Stunden im Wald. Dann kam der 25. März 1945, ein Sonntag. Nachmittags donnern die ersten amerikanischen Panzer durch die Straßen. Erst jetzt kann das Versteck im Keller verlassen werden. Aufatmen - für uns war der Krieg zu Ende.
H. Hechler aus: "Es gibt nichts Wichtigeres als den Frieden!"

Als die Nacht verging: Mörfelden, März 1945
In der Nacht zum 23. März 1945 ist keine Ruhe in Mörfelden. Es gibt Truppenbewegungen von West nach Ost; in einem schrecklichen Zug werden Gefangene und Häftlinge durch Mörfelden getrieben. Täglich kommt der Gefechtslärm näher. Mörfelden ist in diesen Tagen fast frei vom Militär. Als jedoch zwei versprengte Wehrmachtspanzer am Nachmittag des 24. März durch den leergefegten Ort fahren, kommt es zum ersten direkten Beschuß durch die amerikanische Artillerie. Ihre ständig kreisenden Artillerie-Aufklärer hatten sie erspäht. Es gibt Einschüsse u.a. in der Brückenstraße, Langener Straße, Groß-Gerauer Straße, in der Mittelgasse und in der heutigen Liebknechtstraße. Schon während des Beschusses werden in Mörfelden zwei weiße Fahnen gehißt.
Eine weht am alten hölzernen Sprungturm des Schwimmbades; Ernst Schulmeyer aus der Groß-Gerauer Straße hatte sie aufgehängt. Die andere wird von den Mörfelder Bürgern Heinrich Avemary und Karl Dammel ("Schmidt-Karl") auf dem Gebäude der alten Schule in der Bahnhofstraße gehißt. Ein Angehöriger der Naziwehrmacht reißt sie noch einmal herunter.
Auch in der Nacht vom Samstag auf Sonntag gibt es kein Schlafen in Mörfelden. Es wird "ausgeschellt", die letzten Meldungen verlesen. Frauen und Kinder sollen Mörfelden verlassen, der Volkssturm soll in Richtung Dietzenbach ausrücken. Wenige Stunden später läutet erneut der "Ausscheller", alle Männer der Jahrgänge zwischen 1890 und 1930 sollen sich sofort melden. Gerüchte gehen um: "In der Bürgermeisterei sitzt die SS." Die Mörfelder Nazis verbrennen die Akten - sie finden nicht den Mut, die Jugendlichen, die sich zum Volkssturm melden, nach Hause zu schicken. Bald darauf türmen die Mörfelder Obernazis und Vertreter des Landratsamtes, die in den vorangegangenen Tagen in Mörfelden residiert haben, mit dem Feuerwehrauto. Zuvor haben sie in der Bürgermeisterei ein letztes Gelage veranstaltet. Die zurückflutende Wehrmacht sprengt die Brücken; auch die Autobahnbrücke (Straße nach Langen) fliegt in die Luft.
Die meisten Mörfelder Buben und Männer lassen sich jedoch nicht mehr zum Volkssturm pressen. Sie verstecken sich im Wald.
Am Sonntag, 25. März 1945, nachmittags, ist es soweit. Amerikanischen Truppen betreten Mörfelden. Die ersten kommen die Groß-Gerauer Straße herauf, an der Spitze ein Offizier mit gezogener Pistole. Gleichzeitig rollen amerikanische Panzer vom Oberwald her auf Mörfelden zu. Es gibt keinen Widerstand. Jetzt hat Mörfelden geflaggt. Schon in der Groß-Gerauer Straße hängen sieben weiße Fahnen. In der Langgasse gibt es nicht ein Haus, bei dem nicht wenigstens ein weißes Bettuch am Fenster hängt.
In der folgenden Nacht können die Mörfelder zum ersten Mal seit langen Jahren wieder ruhig schlafen. Zwar muß die Verdunkelung noch bleiben, zwar hört man die amerikanische Artillerie, aber man weiß, es wird kein Sirenengeheul geben, es werden keine Bomben fallen.

Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!" (1976)

Die Stunde Null
Langsam wich die Angst der Bevölkerung. Man harrte gespannt auf das Kommende.
In der Mörfelder Westendstraße sprangen schon am Tag nach dem Einmarsch der amerikanischen Truppen drei Offiziere von einem Jeep und fragten Mörfelder Einwohner: -..wo ist der kommunistische Bürgermeister?" Mancher wird sich fragen: warum suchten die Amerikaner, die schon wenige Jahre später den Antikommunismus zur Staatsdoktrin erhoben, ausgerechnet die Kommunisten? Die Frage ist einfach zu beantworten.
Man suchte Kommunisten, weil man Demokraten suchte, weil man konsequente Antifaschisten für den Neuaufbau benötigte.
Rechtzeitig warnte die KPD 1933 das Volk: Hitler - das ist der Krieg! Durch die ganze Periode des Faschismus führte die KPD einen organisierten, kompromißlosen Kampf gegen die schlimmsten Verderber unseres Volkes. Sie hat von allen antifaschistischen Kräften die weitaus größten Opfer gebracht. Von rund 300.000 Mitgliedern, die die KPD 1933 zählte, wurden etwa 150.000 verfolgt, eingekerkert oder ins KZ verschleppt. Zehntausende Funktionäre und Mitglieder der Partei wurden ermordet. Auch aus Mörfelden brachten Mitglieder der Kommunistischen Partei zusammen mehr als 50 Jahre in den Zuchthäusern und KZ's des Naziregimes zu. So waren auch in Mörfelden viele kommunistische Mitbürger dabei, als der Karren aus dem Dreck gezogen wurde.
Die Männer der ersten Stunde in Mörfelden waren: Viktor Büttner, Karl Dammel, Adam Denger, Wilhelm Feutner, Karl Hardt, Heinrich Hechler, Peter Klingler, Wilhelm Neumann, August Schulmeyer, Wilhelm Siegel, Ludwig Schulmeyer, Wilhelm Völker, Erich Wilker. Die Aufgaben waren kaum zu übersehen. Im Wald lagen noch tote Soldaten, als man schon mit dem Pferdefuhrwerk bis zur Waldschenke "Bayer's Eich" fuhr, um gehortete Lebensmittel zu organisieren. Kartoffeln holte man im Odenwald und in Oberhessen, Getreide im Ried, andere Lebensmittel mußten in einem Geschäft in der Langgasse sichergestellt werden.
Lange Zeit gab es kein elektrisches Licht. Zwischen 20 und 7 Uhr durfte sich niemand ohne Erlaubnis der Amerikaner auf der Straße sehen lassen. Laut Kontrollratsgesetz waren Wieder- und Neugründungen von Parteien verboten. Mehr als fünf Personen durften sich nicht versammeln.
Und doch gab es einen neuen Anfang, begann das politische, kulturelle und sportliche Leben. Schon im Mai trafen sich im Rathaus Peter Klingler, Ludwig Geiß und Ludwig Schulmeyer zu ersten Gesprächen über die Zukunft der Sport- und Kulturbewegung in Mörfelden. Am 15. Juni 1945 gab es auf dem Sportplatz am "Grünen Haag" das erste Fußballspiel.
Die politischen Parteien begannen mit ihrer Arbeit. Das Bemerkenswerte dieser Zeit war: fast alle Parteien forderten den Sozialismus.
Angesichts der Volksstimmung wollte sogar die CDU in ihrem Ahlener Programm "die Auflösung der Konzerne"
Die KPD forderte in einem Aufruf vom 11. Juni 1945 ein antifaschistisches, demokratisches Deutschland, mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk. Das war noch kein Programm des sozialistischen Aufbaus.
Kurt Schumacher (SPD) forderte:" Sozialismus ist nicht das ferne Ziel. Er ist die Aufgabe des Tages. "
Und noch eines war bemerkenswert in dieser Zeit. Die Zielstellung von Kommunisten und Sozialdemokraten hatten sich damals derart genähert, wie es seit der verhängnisvollen Spaltung nicht mehr der Fall gewesen war. Gemeinsam waren Sozialdemokraten und Kommunisten gejagt, gefoltert und getötet worden, gemeinsam hatten sie Widerstand geleistet. Auf beiden Seiten war die Erkenntnis gereift, daß die Spaltung der Arbeiterbewegung den Sieg des Faschismus ermöglicht hatte. In allen Ländern der heutigen Bundesrepublik gab es Arbeitsgemeinschaften zwischen KPD und SPD.
Der Frankfurter Aktionseinheits-Ausschuß tagte wöchentlich. Mitarbeiter waren hier u.a. der Kommunist Walter Fisch, der spätere SPD-Landesvorsitzende Willi Knothe und der spätere SPD-Bürgermeister von Frankfurt, Rudolf Menzer.
Auch in Mörfelden gab es Versuche, zu einer Arbeitereinheit zu kommen. Zur ersten öffentlichen Versammlung nach dem Krieg, sie fand am 10. November 1945 in der "Ludwigshalle" statt, lud die KPD Mörfelden Pfarrer Merten (später Abgeordneter im Bundestag) und den Vorstand der SPD ein. Auf Initiative der KPD trafen sich die Vertreter beider Arbeiterparteien am 1. Januar 1946 zu einem ersten Gespräch.
Aus: "Die Stadtfarbe ist rot!" (1976)

Ein Nachwort
Wenn man sich die Welt von heute ansieht könnte man resignieren. Haben die Menschen nichts gelernt? Überall neue Kriege. Auf dem Balkan, im Kaukasus, in Afrika.
Immer mehr Hunger. Neue Bedrohungen. FCKW, CO 2 und Ozonloch. Jeden Tag neue Krankheiten, neue Allergien.
Immer neue Meldungen: Klimaveränderung, Stürme, Hochwasser. Naturkatastrophen? Nein, Katastrophen von Menschen gemacht! Auch in unserem Lande: Immer mehr Armut. Immer mehr Arbeitslose. Daneben: unvorstellbarer Reichtum.
Neue Nazis. Ist aus gleichem Gemisch nicht mal Hitler gewachsen?
Auswüchse einer Gesellschaftspolitik, in der nur der Gewinn zählt. Nach dem, zum großen Teil selbstverschuldeten Niedergang der sozialistischen Länder, erleben wir jetzt einen fast ungebremsten Kapitalismus. Soll dieser Kapitalismus die letzte Antwort der Geschichte sein? Diese Frage müssen die Betroffenen selbst beantworten. Wo sind die Gegenkräfte? Sie sind schwach, zerstritten. Vielen ist sogar die Vision einer besseren Welt verlorengegangen.
Welche Antworten gibt es?
Bei Wahlen - an den Plakatwänden austauschbare Sprüche. Waschmittelwerbung.
Wer sagt schon solche einfachen Wahrheiten, wie: "Wer den Superreichen nichts nimmt, kann den Armen nichts geben?"
Und doch wird dies zu einer der Grundfragen werden.
Die Forderungen der Französischen Revolution sind noch aktuell: "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit". Viele ethnische Konflikte sind ausgebrochen, weil es ein ökonomisches Gefälle gibt. Und unsere Erinnerung an die Zeit von 1933 bis 1945. Soll man "die alten Geschichten ruhen lassen"? Man darf nicht vergessen, daß es deutsche Industrielle und Bankiers waren, die Hitler finanzierten, weil sie von ihm erwarteten, daß er ihnen die Sozialisten, Kommunisten, Gewerkschafter, das Parlament, die Demokratie vom Halse schafft, die ihm damit auch die Macht gaben, Auschwitz, Krieg und Völkermord zu organisieren.
Man darf nicht verdrängen, daß die konservativen Parteien, daß Adenauer samt seiner politischen Söhne und Enkel nach 1945 genau diesen Hitler-Finanziers, wieder Macht übertrugen, um die Bundesrepublik Deutschland nach ihrem kapitalistischen Muster zu restaurieren. So holte der erste Bundeskanzler dieses Landes, Konrad Adenauer, den Kommentator der antisemitischen Nürnberger Rassengesetze Hans Globke, als Staatssekretär in seine unmittelbare Nähe.
Und ein Herr Bütefisch, als IG-Farben-Boß verantwortlich für den Sklaveneinsatz jüdischer Menschen in Auschwitz, erhielt von einem Bundespräsidenten Lübke das Bundesverdienstkreuz dieser Bundesrepublik Deutschland.
Es genügt nicht, Antisemitismus zu bekämpfen, wenn Ausländerfeindlichkeit und Hetze gegen Asylsuchende offiziell und gesetzmäßig zugelassen werde
Es genügt nicht, von demokratischen Lehren zu schwätzen, wenn gleichzeitig in der bekannten Weise gegen Kommunisten, Sozialisten, gegen Gewerkschafter vorgegangen wird.
Es genügt nicht, vom Aufstieg Hitlers zu reden und seine Finanziers zu verschweigen. Die Vorgänger der Stihls und Murmanns haben damals die Nazis geholt, um genau das zu machen - die Gewerkschaften, Sozialdemokraten und Kommunisten auszuschalten, und Auschwitz bekamen sie dazu.
Bertolt Brecht schrieb: "Laßt uns das tausendmal Gesagte immer wieder sagen, damit es nicht einmal zuwenig gesagt wurde! Laßt uns die Warnungen erneuern, und wenn sie schon wie Asche in unserem Mund sind!" Besser können wir das auch nicht ausdrücken. Wir müssen unser Vergangenheit ernst nehmen. Nur wenn wir uns dieser schlimmen Zeit des Faschismus und des Krieges erinnern, nur wenn wir dieses Wissen weitertragen, haben wir die Chance, daß die Nachgeborenen ähnliches nicht erleiden müssen.

Rudi Hechler